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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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paßte. Lorenz fühlte sich
ja in keiner Weise geschädigt oder verletzt oder von einer Gehirnhälfte
verlassen (obgleich dies den Tatsachen entsprach), sondern empfand sich
vielmehr im Einklang mit sich und seinen Wahrnehmungen. Er sagte: »Es ist
absolut nicht so, daß ich die Welt nur halb sehe. Allerdings kann gut sein, daß
eine wahre und eine falsche Seite existiert und ich mir somit erspare, etwas
anzuschauen, was gar nicht besteht. Beziehungsweise bloß als Fälschung und
Betrug.«
    So sah er das und war damit zufrieden. Wobei er selten über diese
Angelegenheit sprach, weil es nach seinem Verständnis nichts zu erklären und
schon gar nichts zu rechtfertigen gab.
    Terminologisch gesehen litt Lorenz Mohn unter etwas, das man mit dem
alten Wort Neglect bezeichnete, was so viel hübscher
als das gleichbedeutende Vernachlässigung klingt. Der
Infarkt hatte eine halbseitige Schädigung seines Gehirns nach sich gezogen, und
zwar im Bereich der rechten Hemisphäre. Die Folge war eine Beeinträchtigung der
linksseitigen Wahrnehmung. Eine Beeinträchtigung deutlichen Ausmaßes: Für
Lorenz hatte die linke Seite der Welt zu bestehen aufgehört. Ein Umstand, der
vom medizinischen Standpunkt eine einigermaßen klare Sache darstellte. Weniger
klar war die auffällige Geschicklichkeit, mit der Lorenz sich in Räumen zu
plazieren oder zu bewegen pflegte. So gelang es ihm etwa, fast immer so zu stehen
zu kommen, daß jene verhaßte Scherenschnittkünstlerin Lou Bilten im linken
Spektrum verblieb. Dies mochte weniger ein bewußter Akt sein – zumindest würde
dies der Gebundenheit eines Neglectpatienten widersprechen –, sondern eine
intuitive Bravour, ein automatische Richtig stellung,
eine reflexartige Verbannung des Häßlichen und Unangenehmen auf die linke
Weltseite (was natürlich in keiner Weise politisch zu deuten war, zudem war es
ja so, daß nicht die linke, sondern die rechte Hirnhälfte die Schädigung davongetragen
hatte). Auf der linken Seite – die in einem ewigen Schatten verblieb, gleich
der Rückseite des Mondes – befanden sich Dinge wie der ungeliebte
Fernsehapparat oder jene Hälfte des Schreibtischs, auf dem die Unterlagen für
die Steuererklärung lagen. Lorenz übersah stets die Häuser in der Umgebung der
Rosmalenstraße, welche er für Architekturverbrechen hielt, übersah ebenso das
kleine, schäbige Sexkino, das ihn an seine Vergangenheit als Pornodarsteller
erinnert hätte.
    Ja, Lorenz’ ganze Vergangenheit spaltete sich in ein sichtbares
Rechts und ein unsichtbares Links. Was nicht bedeutete, daß er ganze Teile
vollkommen ausklammern konnte. So wußte er durchaus, auf welche Weise er viele
Jahre sein Geld verdient hatte. Doch ähnlich den Experimenten von Bisiach und
Luzatti, die nachweisen konnten, daß Neglectiker ihre Erinnerung je nach
vorgegebener Perspektive in ein »rechtes« Sich-Entsinnen und ein »linkes«
Alles-Vergessen spalten, entgrätete und filetierte Lorenz sein Gedächtnis und
teilte es in Eßbares und Ungenießbares. So lebte er beispielsweise stark im
Bewußtsein jener großbusigen Frau, die während einer Drehpause mit vermeerscher
Erhabenheit einen kleinen Pullover oder Schal gestrickt und somit die
wegweisende Inspiration zur Gründung von Plutos Liebe geliefert
hatte. Auch erinnerte er sich gerne an genau die Drehtage, an denen irgend jemandes Geburtstag gefeiert worden war.
    (Geburtstagsfeste machen für ein paar Stunden aus Erwachsenen
Kinder, erst recht, wenn diese Erwachsenen in Berufen tätig sind, die alles
Kindliche ausschließen. Denn das ist ja eine absolute Wahrheit, daß der Sex,
selbst der sogenannte gesunde, eine beengte Domäne der Erwachsenen darstellt.
Kinder spielen, sie wären Astronauten, Superman und Supergirl, Polizisten und
Polizistinnen, sogar Börsenmakler oder Bankbeamte oder Fernsehköche, aber sie
spielen niemals Sex. Ihre Doktorspiele sind vollkommen ernst gemeint – als ein
Nachspielen des Verhältnisses Arzt–Patient,
als ein Nachspielen medizinisch relevanter Handlungen – und erhalten ihre
bedenkliche Färbung erst durch den zwanghaft eingeschränkten Psychoblick der
Erwachsenen.
    Geburtstage bieten umgekehrt Erwachsenen die Möglichkeit, Kinder zu
spielen, eine Ausgelassenheit, eine Herzlichkeit, eine simple wie echte Freude
am ringelreihartigen Miteinander

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