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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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wollte, auch nicht zu sehen brauchte. Seine
Schwägerin nicht, den Fernsehapparat nicht und einiges andere an Schwachsinn
und Unglück ebenfalls nicht. Aber davon gleich mehr.
    Obwohl Plutos Liebe erst um zehn
öffnete und es bis dahin noch eine halbe Stunde dauerte, betrat nun ein Mann
durch die unverschlossene Türe das Geschäftslokal, stellte sich an die helle,
hölzerne, in den sieben Jahren kaum gealterte Verkaufstheke, hinter welcher
Lorenz seinen Kaffee schlürfte, und erklärte, ohne sich die Mühe einer Begrüßung
anzutun, er käme von Claire Montbard. Und Lorenz könne sich ja sicherlich
denken, was das zu bedeuten habe.
    Lorenz reagierte nicht, sondern schaute fortgesetzt konzentriert in
seinen Schnittmusterkatalog.
    Â»Was ist los mit Ihnen?« fragte der Mann, ein hagerer,
gräulich-blasser, in der schwefelig leuchtenden Aura jahrzehntelanger
Spiegeltrinkerei dastehender Endfünfziger. »Denken Sie, Sie können sich taub
stellen?«
    Nun, das dachte Lorenz keineswegs. Und in der Tat spielte er hier
weder Theater noch Vogel Strauß. Er war banalerweise tief in seinen Kaffee und
tief in seinen Katalog vertieft. Auch wenn gesagt werden muß, daß er Teile
dieses Katalogs gar nicht wahrnahm. Aber eben nur Teile, während er den gerade
eingetretenen Mann in seiner Gesamtheit übersah. Die Aura, die Gestalt, die
Bewegungen. Nicht weniger überhörte er das Gesprochene, ja nicht einmal den
penetranten Duft des After-shaves, das an die geruchliche Inszenesetzung einer
Bonbonniere erinnerte, bemerkte Lorenz. Und zwar aus einem so einfachen wie verblüffenden
Grund: Dieser Mann, der im Auftrag Claire Montbards gekommen war, hatte sich
deutlich links von Lorenz an die Theke gestellt. Und somit in einen Bereich,
der für Lorenz inexistent war. Nicht, weil er diesen Teil, diese Sphäre, dieses
»linke Spektrum« ignorierte oder willentlich verdrängte. Nein, die Dinge, die
sich von ihm aus gesehen auf der linken Seite abspielten, waren für Lorenz
schlichtweg nicht vorhanden. Er sah sie nicht, spürte sie nicht, roch sie
nicht, hörte sie nicht, ohne jedoch im Bewußtsein eines Makels, eines Versagens
seiner Sinne zu leben. Wenn Dinge und Menschen auf der »falschen Seite« standen – als verweilten sie in einem jenseitigen, geisterhaften Reich –, dann war das
nicht seine Schuld. Die Leute mußten sich schon die Mühe machen,
herüberzutreten in den sichtbaren Teil der Welt. Jedenfalls kam Lorenz nicht
auf die Idee, sich in eine ständige linksdrehende Bewegung zu begeben, um die
Menschen und Gegenstände quasi auf die rechte Seite zu verschieben. Darauf
sollte ein jeder schon selbst kommen. Oder eben bleiben, wo er war.
    Es lag nun ein halbes Jahr zurück, daß Lorenz Mohn, auf einer Leiter
stehend und mit dem Einordnen einer Lieferung Wolle beschäftigt, einen Infarkt
erlitten hatte. Im Grunde hatte das eigentliche Glück darin gelegen, den Sturz
von der Leiter überlebt zu haben. Allerdings war auch der Infarkt keine
Kleinigkeit gewesen. Und es drängte sich die Frage auf, wie ein Mann von
Lorenz’ Konstitution, welcher in diesen vergangenen sieben Jahren in keiner
Weise seine sportlichen Übungen und seine gesunde Lebensweise aufgegeben hatte,
zusätzlich dazu aber ein zufriedener, glücklicher, ein in Liebe und Harmonie
aufgehobener Mensch geworden war, welcher auch in seinem Beruf eher den
Tugenden des menschlichen Maßes als einer ruinösen Bombastik des Gehetztseins
gefolgt war, wie ausgerechnet so jemanden ein Infarkt hatte ereilen können. Was
wohl zu diesen Wundern der Krankheit gehörte, welche uns immer wieder staunen
machen. So wie uns umgekehrt all die neunzigjährigen unverwüstlichen
Kettenraucher und Kettenraucherinnen verblüffen. (Darum muß auch erwähnt
werden, daß Lou Bilten, obzwar sie ihrer radikalen Schmaucherei und ihres
Wechsels von der Fett- zur Magersucht wegen nicht gerade an das blühende Leben
erinnerte, dennoch blühte . Und das ist eben ein
Unterschied: Scheinblühen oder richtiges Blühen.)
    Den Sturz und den Infarkt hatte Lorenz überlebt, doch ohne Folgen
war dieses Krankheitswunder nicht geblieben. Bald stellte sich heraus, daß
Lorenz eine sogenannte Hirnläsion davongetragen hatte. Er selbst verstand immer
Hirn liaison – und man kann eigentlich sagen, daß
dieses Mißverständnis bestens zu der ganzen Situation

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