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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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gleichwohl kam es schon mal vor, daß sie dachte, ein zweiter
Infarkt, natürlich in der Art des ersten, wäre kein Schaden.
    In der Etage über dem Geschäft hatten die beiden eine Wohnung, während
sich im letzten Stockwerk Claire Montbard eingerichtet hatte. Und zwar in aller
Bescheidenheit, was nun weniger die Einrichtung betraf, sondern ihre Stellung
in der Osloer Gesellschaft. Man kann sagen: Claire Montbard hatte sich
verkleidet. Sie wirkte jetzt weder mondän noch auserwählt, noch beherrschend,
sondern erinnerte an eine trauernde Witwe, die ihre Trauer auch ernst nimmt und
nicht etwa mit den Trauergästen herummacht. So gesehen, verhielt sie sich also
recht ähnlich wie Lorenz, nur daß in ihrem Fall die Tarnung eine bewußte war.
Sie war nicht depressiv, sondern einfach vernünftig. Sie wollte nicht
auffallen, noch nicht. Sie wartete wohl darauf – wie das in der Politik so ist –, daß die Machtverhältnisse auf X sich änderten und Leute ans Ruder kamen, die
nicht ihr, sondern etwa dem toten Soonwald die Schuld daran gaben, daß die
»Wetterhäuschen« auf Pluto mittels einer simplen kleinen NASA-Sonde
entdeckt worden waren. Claire Montbard verblieb somit in der bedächtigen
Haltung einer verschleierten Hinterbliebenen und harrte ihrer erneuten
Inthronisierung. Sie hatte ihre vierhundert Jahre noch vor sich, da würde ein
Moment raffinierten Stillhaltens nicht schaden.
    Â»Das Schönste an Oslo ist«, wiederholte Lorenz gerne, »daß
hier so viele Gemälde von Edvard Munch hängen.«
    Ja, Lorenz Mohn, der bisher der Malerei relativ leidenschaftslos
gegenübergestanden war und eher ihre bildungsbürgerliche Notwendigkeit als
ihren Einfluß auf die menschliche Psyche wahrgenommen hatte, also ihren
Grundwert statt ihren Sexappeal, war bei einem seiner verzweifelten
Spaziergänge durch die Stadt in das nahe der weißen Oper gelegene Munch-Museum
geraten und hatte sich in die Bilder dieses frühen Expressionisten verliebt.
Wie die meisten Menschen hatte er bis dahin bei Munch immer nur an den
berühmten »Schrei« gedacht gehabt, der wie ein Markenzeichen menschlicher
Verzweiflung fungierte, als wollte ebendiese Menschheit mittels eines solchen
Bildes fernen Betrachtern mitteilen: Seht her, so dreckig
geht es uns. Aber gleichzeitig sind wir in der Lage, unser Unglück in so schöne
Bilder zu übertragen.
    Lorenz war in dieses auf eine flughafenartige Weise schwer bewachte
Museum mit dem Bedürfnis getreten, etwas Verrücktes zu tun, zum Beispiel einen
Kugelschreiber zu nehmen und an einem der sündteuren, fast mehr von den
Versicherungssummen als von den Bilderrahmen getragenen Gemälden eine
liebevolle Schmiererei vorzunehmen. Etwa von der Sorte, wie es der zur
Fahnenflucht bereite Xler Klaus Soonwald versucht hatte, indem er ein paar mit
Norwegerpullovern kostümierte Araber angepöbelt hatte. Was ja auch von Erfolg
gekrönt gewesen war. – Freilich, in jedem Erfolg steckt eine Niederlage. Wie in
der Gesundheit die Krankheit steckt. Nur die Kranken können nicht mehr krank
werden.
    (Es wäre übrigens zu erwähnen, daß jener im August 2004geschehene Raub des Gemäldes »Der Schrei«, damals aus dem
noch an der Tøyengata gelegenen Museumsgebäude, im Auftrag eines X-Agenten
erfolgt war. Nur, daß man sich unklugerweise auf die Fähigkeiten der Osloer Mafia
verlassen hatte, wodurch das Bild erstens Schaden genommen und zweitens zum
Spielball unverschämter Forderungen geworden war, so lange, bis es sich wieder
glücklich in den Händen des norwegischen Staates befunden hatte. Auf diese
Weise war den Leuten auf X klar geworden, daß man mit der Mafia keine Geschäfte
machen konnte, sondern diese Berufsschurken mit aller Macht kontrollieren
mußte. So, wie Claire Montbard es in Wien und im badischen Singen vorgemacht
hatte. Und darum war es dann auch nicht der bekannte »Schrei« von Munch
gewesen, sondern ein unbekannter rosa Picasso aus Singener Privatbesitz, der
die Reise nach X angetreten hatte.)
    Lorenz hätte also gerne ein kleines Attentat begangen, wie das
Verrückte gerne tun. Aber er war ja gar nicht verrückt, sondern bloß wütend und
traurig und schwermütig. Außerdem fehlte ihm ein Kugelschreiber, ein Feuerzeug,
ein kleines Messer, irgendein Gerät, mit dem er die Attacke hätte vornehmen
können. Einfach in ein Bild zu treten

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