Gewitter über Pluto: Roman
dauern,
bis Lorenz aufhörte, dies zu übersehen). Paul stand in einer Gruppe anderer
Kinder, die vor dem Schultor einen Kreis bildeten und sich in der schnatternd
erregten Weise ihres Alters unterhielten. Es war deutlich zu erkennen, wie sehr
die Mädchen sich um Paul bemühten. Achtjährige mochten noch Zwerge sein und
unschuldige dazu, aber selbst in der Zwergenwelt blüht das Begehren. Wie auch
die Unvernunft, die vor allem darin besteht, sich ständig falsche Partner
auszusuchen. Gefährliche oder dumme. Immerhin schien Paul in dieser Hinsicht
ein Frühreifer zu sein, nicht in einem erotischen Sinn, sondern in einem
verstandesmäÃigen. Er hatte sich nämlich aus diesem Kreis zartgelockter und
feingliedriger Wesen ein Mädchen als beste Freundin ausgesucht, die sehr viel
weniger attraktiv anmutete als der in Benettonfarben getauchte Rest. Sie war
der pummelige Typ, Babyspeck, der vermutlich ewig an ihr kleben würde. Doch wie
Sera jetzt berichtete, war dieses Mädchen das mit Abstand netteste, klügste und
liebenswerteste in der ganzen Truppe. Ein Schatz eben, wie auch Paul einer war.
Während man den anderen Gören und Gänsen bereits anmerkte, was sie später
einmal ausmachen würde: pure Bosheit.
Paul trennte sich nun von jenem Mädchen, hinter dessen Babyspeck
sich möglicherweise nicht nur eine intelligente, sondern gleichfalls eine
hübsche Persönlichkeit verbarg, und lief auf Sera zu, umarmte die Niederkniende
und begann sofort, in einem kleinem Schwall von Wörtern irgendeine Geschichte
zu erzählen, die sich beim Turnen zugetragen hatte. Schwer zu sagen, ob Paul
den Mann neben seiner Tante nicht bemerkte oder nur so tat. Bei Kindern dieses
Alters sind das Absichtliche und das Unabsichtliche stark verschränkt. So kommt
es oft vor, daà ein Kind gar nicht weiÃ, ob es lügt oder nicht. Das eine
erscheint ihm oft als das andere. Es erkennt noch die Unschärfe des Lebens,
bevor es sich dann endgültig dafür entscheidet, gut oder böse zu sein.
Beziehungsweise was man allgemein dafür hält.
»So, Paul«, nutzte Sera ein Atemholen ihres Neffen, »das hier ist
Lorenz.«
Paul verengte sein Augenpaar und betrachtete Lorenz wie durch ein
Okular. Was auch immer er darin sah, es verführte ihn zu der Frage: »Was machen
Sie?«
»Meinst du, was ich arbeite?« fragte Lorenz zurück.
»Nein, was machen Sie hier?«
»Ich habe Sera begleitet.«
»Warum?«
»Damit sie nicht alleine ist.«
»Aber Sera ist doch erwachsen«, argumentierte Paul.
»Schon richtig. Nur ist es so, daà auch Erwachsene es mögen,
begleitet zu werden.«
Paul richtete sich an Sera und fragte: »Magst du das, wenn man dich
begleitet?«
Er betonte das Wort »begleitet«, als stecke darin ein fürchterliches
Geheimnis. Und ein biÃchen mysteriös war es ja tatsächlich. Ob allerdings
fürchterlich oder nicht, würde sich noch herausstellen. Jedenfalls erklärte
Sera, daà es ihr durchaus gefalle, begleitet zu werden.
»Von Lorenz?« stocherte Paul nach.
»Ja.«
»Und von wem sonst?«
»Von dir zum Beispiel.«
»Aber ich bin doch ein Kind«, blieb Paul in seiner Spur.
»Na und?« sagte Sera.
»Ich kann dich nicht beschützen«, meinte Paul. »Lorenz schon.«
Selbiger Lorenz fragte sich: Was will der Kleine eigentlich hören?
Aber Paul wollte nichts Bestimmtes hören, sondern er wollte sich
auskennen. Er wollte wissen, wieso ein Mann namens Lorenz wie aus dem Nichts
aufgetaucht und neben seiner Tante Sera zum Stehen gekommen war. Was das zu
bedeuten hatte. Für Sera. Für ihn. Für den Gang der Welt.
»Es geht nicht ums Beschützen, mein Schatz«, sagte Sera zu Paul. »Es
geht darum, daà man manchmal zu zweit sein möchte. Daà es gut ist, zu zweit zu
sein.«
»Wie die Leute, die zu dir kommen, um zu heiraten.«
»Man muà nicht immer gleich heiraten, aber in etwa so meinte ich
es.«
Das schien Paul zu genügen, denn er sagte unvermittelt: »Jetzt hätte
ich gerne ein Eis.«
»Gut, dann laà uns eins kaufen«, beschloà Sera, nahm Paul an der Hand
und zwinkerte Lorenz zu.
Es war kein vielsagendes Zwinkern gewesen, kein Versprechen oder so,
sondern eine bloÃe Vertraulichkeit. Eine familiäre Geste. Doch für Lorenz war
dieses Zwinkern wie ein kleiner KuÃ. Die Ouvertüre zu einem
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