Gewitter über Pluto: Roman
jener Spiele, die er kreierte. Nichts mit Gewalt. Zumindest
nicht die Gewalt andauernder Gewehrsalven und blutiger Kill-Bill-Schlitzereien.
Es waren vielmehr magische Welten, die er konstruierte, in denen fast jeder
Gegenstand und jedes Lebewesen eine Stimme und eine Sprache besaÃen. Nicht aber
die Menschen. Das war der Fluch, unter dem sie litten, nämlich ausgerechnet
das, was sie bisher von ebenjenen Gegenständen und Tieren unterschieden hatte,
verloren zu haben. Und genau darin bestand letztendlich der Zweck des Spiels,
die Sprache wiederzufinden, wo auch immer und in welcher Form auch immer sie
versteckt sein mochte. So irrten die stummen Helden von Insel zu Insel, von
Labyrinth zu Labyrinth, von einer Galaxie zur nächsten, vernahmen die
Kommentare ihrer Bordcomputer genauso wie die eines omnipräsenten Ameisenbären
namens Furtwurt X, erlebten die Eloquenz von philosophisch veranlagten Lianen
und die Geschwätzigkeit hinterfotziger Liegestühle und litten unter dem
Umstand, sich all das anhören zu müssen, ohne ihrerseits etwas beitragen oder
entgegnen zu können. Aber ihre Abenteuer waren dennoch grandios und ihre Suchen
jede Qual wert.
Es darf nicht verwundern, daà Viktor im Zuge seiner Arbeit an dem
Programm selbst ein wenig an Sprachkraft einbüÃte. Zumindest kann man sagen,
daà Paul seinen Vater in diesen Jahren als eine stumme und dunkle
Persönlichkeit erlebte. Was nicht heiÃen soll, daà der Vater seinem Sohn keine
Zärtlichkeit zukommen lieÃ. Er liebkoste ihn, setzte sich jeden Abend zu ihm
ans Bett, bemühte sich um ein väterliches Engagement, Schwimmen am Samstag,
FuÃball am Sonntag, mitunter Balgereien unter Männern. Nein, Viktor war kein
schlechter Vater, aber ein guter war er ebenso-wenig. Er tat bloà das Nötige,
nicht das Notwendige. Anders die Schwestern, welche Paul ins Zentrum ihrer
Interessen stellten und ihren Alltag wie ihr Berufsleben nach den Bedürfnissen
des Kindes ordneten. Ohne deshalb tausend Kindermädchen engagieren oder auch
nur die greise Mutter von ihrem Altersdomizil auf Madeira herholen zu müssen.
Niemand wollte diese Mutter hierhaben. Sie war ein Monster. Und es war gut, sie
auf einer Insel zu wissen.
»Kommen Sie mit?« fragte Sera. »Ich hole unseren kleinen
Schatz von der Schule ab.«
Mein Gott, wie sie das sagte: kleiner Schatz! Es klang, als rede sie
über das gröÃte Glück auf Erden. Und es klang, als trage sie winzige Edelsteine
auf ihrer Zunge. Zaubersteine, mit denen man die Sprache in etwas ungleich
Edleres und Wertvolleres verwandeln konnte. Zaubersteine wie aus einem
Computerspiel von Viktor Bilten. Jedenfalls konnte sich Lorenz nichts Besseres
denken, als diese Frau auf ihrem Weg zur Schule zu begleiten.
Als sie sich nun erhob, bemerkte er erst, daà sie relativ groà war,
für eine Elfe sowieso. Nicht ganz so groà wie er selbst, aber groà genug, daÃ
er sich, wenn er sie einmal küssen wollte, nicht wie ein futtersuchender
Flamingo zu ihr würde hinunterbeugen müssen. Ja, er dachte bereits ans Küssen.
Nicht jedoch, weil er meinte, er sei auf Grund seiner pornographischen
Vergangenheit oder wegen seines ebenmäÃigen Gesichts unwiderstehlich. Nein,
seine Ãberzeugung bestand darin, daà er und Sera füreinander bestimmt waren.
Und daà auch Sera dies nach und nach begreifen würde.
Lou, die Meisterin der Scheren und Zigaretten, wollte etwas sagen.
Lieà es aber bleiben. Ihr Blick sprach Bände. Sie hätte Lorenz Mohn gerne
zurück nach Sexland geschickt, wo er herkam. Doch die Freude wollte ihr Lorenz
nicht machen. Statt dessen begab er sich mit Sera auf den Weg, auf den
Schulweg. Sie durchquerten den langen Gang des Hauses und traten hinaus auf die
RosmalenstraÃe, welche im grellen, geradezu glühendweiÃen Mittagslicht ihre
ganze Farbe verloren hatte. Die gesamte Stadt wirkte an diesem Tag wie zu
heller Asche verbrannt, wie leergekocht. Ja, der Sommer war nun wirklich
hereingebrochen. Tage der Hitze und Atemlosigkeit würden sich einstellen. Tage,
die sich in die Nächte hineinziehen, die ihre Wärme rund um die Uhr verteilen
würden. Tankstellentage.
Zuerst aber Schule.
Paul war wirklich eine erfreuliche Erscheinung. GewissermaÃen die
männliche und achtjährige Version von Sera (allerdings steckte auch, wenngleich
nicht in einem optischen Sinn, eine Menge Lou in ihm â es würde lange
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