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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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die Konstellation, wie sie hier auf dem Schachbrett
gegeben war, schon einmal gesehen hatte. Da stand ein weißer Springer, der von
der Ostflanke in den schwarzen Westen vorgedrungen und dort offensichtlich eins
meiner Pferde geschlagen hatte. Wobei es sich nun aufdrängte, mit einem Bauern
zurückzuschlagen. Eine Bilderbuchsituation dafür, daß jeder sein Pferd
verliert, aber keiner sein Gesicht, und danach vor allem ein wenig mehr Raum
vorhanden ist. – Nichts gegen Pferde, doch diese Reiterei ist wirklich nicht
das Leben.
    Richtig, jetzt fiel es mir wieder ein. Mein schlechtes Gedächtnis
hatte mich nicht getrogen. Das, was ich hier sah, war exakt die gleiche
Situation wie im Spiel zwischen dem verrückten Bobby Fischer, diesem Glenn
Gould der Schachkunst, und einem Journalisten namens Robert Byrne. Allerdings
hatte Byrne damals zu Fischers Erstaunen nicht das getan, was sich so zwingend
angeboten hatte. Er hatte das weiße Pferd nicht geschlagen, hatte sich geradezu blindgestellt ob der Verführung. Wie jemand,
der einem Kuß widersteht. Sodann hatte Byrne seinen Königsläufer neben dem weißen
Pferd in Stellung gebracht, um der schwarzen Dame Deckung zu geben, wenn diese
darangehen würde, einen Bauern zu eliminieren und den weißen König schachmatt
zu setzen.
    Es ist völlig klar, daß Fischer sich gegen ein solches Unterfangen
wappnete und seinen bedrohten Bauern ein Feld vorschickte. Doch selbst jetzt
noch unterließ es Byrne, Fischers weißen Springer, der ja fortgesetzt gleich
einem übereifrigen Schulkind auf sich aufmerksam machte, vom Brett zu
befördern. Nein, Byrne schlug vielmehr den vor der weißen Königin stehenden
Läufer, begab sich auf diese Weise in die Schutzsphäre der eigenen Dame und
kassierte in der Folge auch noch einen feindlichen Turm. Woraus sich etwas
ergab, was man im Schach »Materialvorteil« nennt, ein Phänomen, das sich gleichfalls
sehr schön vom wirklichen Leben unterscheidet. Weil ja im wirklichen Leben das
Prinzip der Aufrüstung besteht, der Anhäufung und der Übertreibung. Im
wirklichen Leben dominiert die Tendenz, eine zweite und dritte Dame
anzuschaffen, am besten eine Armee von Damen, anstatt sich wie im Schach auf
die Armee der Bauern zu verlassen, deren einzelne Mitglieder unter anderem die
hehre Fähigkeit besitzen, durch Vordringen bis an die gegnerische Kante sich zu
opfern und eine verlorene Dame wieder ins Spiel zurückzubringen. Solche Bauern
braucht das Land. Allerdings braucht das Land auch eine solche Königin, die
überhaupt bereit ist, sich von einem Bauern retten zu lassen. Im Unterschied zu
diesen auftoupierten First Ladys, die dümmlich neben ihren Gatten grinsen und
dank wohltätiger Stiftungen ihr schlechtes Gewissen zauberhutartig in ein gutes
verwandeln. Wie Leute, die einen abgeschlagenen Schädel wieder auf den Rumpf
setzen, mit ein bißchen Spucke die Bruchstellen verschließen und dann so tun,
als sei alles in bester Ordnung.
    Na gut, die Stellung hier auf dem Brett entsprach also der
Fischer-Byrne-Situation. Und darum entschloß ich mich, so wie einst Byrne es
getan hatte, das weiße Pferd zu ignorieren und statt dessen mit dem Läufer auf
d6 zu gehen, um ein Schachmatt vorzubereiten, welches natürlich nicht wirklich
eintreten würde, sondern eben bloß als etwas Mögliches funktionierte, als eine
Warnung, eine Bedrohung, eine Ablenkung. Außer…außer dieser Mick war eine Niete.
    Doch das war Mick nicht. Er durchschaute, was es zu durchschauen
gab, und tat sodann denselben Zug, den auch Bobby Fischer getan hatte: mit dem
Bauern nach vorn.
    Es war nun keineswegs so, daß ich sämtliche Züge, wie sie einst
vollzogen worden waren, vollständig im Kopf hatte. Sondern es ergaben sich
chronologisch auftauchende Brocken der Erinnerung. Darum konnte ich auch gar
nicht sagen, wer eigentlich damals das Spiel gewonnen hatte, ob also die
gewagten Manöver eines inspirierten Laien dazu geführt hatten, das Schachgenie
Fischer zu besiegen.
    Aber bis ans Ende kamen wir sowieso nicht. Obgleich auch Mick sich
haargenau an die Züge Bobby Fischers hielt, unterbrach er zum Schluß hin die
Partie und erklärte, daß er zu tun habe. Geschäftliches. Und außerdem schließe
das Lokal in einer halben Stunde.
    Ich war mir jetzt sicher, daß ich die Partie gewonnen hätte.
Beziehungsweise, daß in der legendären Partie

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