Gewitter über Pluto: Roman
betraten Stirling und Mohn das Museumsgebäude.
Durch ein schmales Entree ging es in den Ausstellungsbereich. Niedrige Räume,
die von Brauntönen beherrscht wurden, welche an die taillierten und mit
allerlei Täschchen ausgestatteten Männerhemden erinnerten, wie man sie früher
in Readerâs-Digest-Heftchen beworben hatte.
Obgleich Stirling und Mohn ja Laien waren, begriffen sie rasch,
welch wunderbare Objekte hier ausgestellt wurden. Kronjuwelen der
Erdgeschichte. Und genauso waren sie auch präsentiert. Vor allem der
herausragende, wie ein Heiligtum unter einem sakral geformten Glassturz
plazierte Stein, der das Fossil eines Archaeopteryx lithographica beherbergte.
Der Stein das Skelett, der Glassturz den Stein, das Gebäude den Glassturz,
Solnhofen das Gebäude und der liebe Gott â so kann man hoffen â Solnhofen.
Die beiden Männer starrten durch die Scheibe auf das hell
erleuchtete Objekt. Auch sie bemerkten natürlich, wie wenig dieses Fossil an
einen Vogel erinnerte und wie sehr an eine Echse, einen Teufel, einen kompakten
Dämon. Allerdings einen scheinbar unbeflügelten Dämon. Darum war es recht
bedeutsam, daà hinter diesem Stein, in einer an die Wand gefügten Vitrine, ein
weiteres Archaeopteryxfossil ausgestellt war, welches sich jedoch auf das
isolierte Skelett eines rechten Flügels beschränkte. Ein Mensch mit
Vorstellungskraft konnte somit auch ohne diverse Lebendrekonstruktionen sich
ein Bild davon machen, wie dieser Vogel ausgesehen haben muÃte. Ein Teufel als
Taube. Ein Alien als Elster.
So faszinierend der Anblick all dieser Ausstellungsstücke war,
sosehr das ganze Museum auf eine intime und undramatische Weise eben nicht nur die
Fossilien, sondern nicht weniger die Besucher schirmartig schützte, einen jeden
in das Gefüge der Zeit und der Evolution einspann (denn was wäre der Mensch
anderes als ein aus der Evolution geborener Museumsbesucher, ein Betrachter der
eigenen Entwicklung?), so wenig Informationen ergaben sich in bezug auf den
Kriminalfall, in den Mohn und Stirling ja nicht minder eingesponnen waren. Aber
es war auch nicht zu erwarten gewesen, daà die Antwort auf die Frage, wieso ein
ehemaliger Bäcker tot unter Mohns Bett gelegen hatte, nun aus dem urzeitlichen
Stein praktisch herausspringen würde. Immerhin aber verstärkte sich sowohl bei
Mohn als auch bei Stirling der Verdacht, daà diesem Fossil nicht nur für den
Darwinismus und die Paläontologie eine groÃe Bedeutung zukam, sondern ebenso
für die Aufklärung besagten Verbrechens. Es war bloà ein Gefühl, doch es war
ein starkes Gefühl. Und Gefühle sind immerhin abstrakte GewiÃheiten, esoterisch
verzerrte Fakten. Ja, dieser Vogel hatte Nix das Leben gekostet. Dieser Vogel hatte
wahrscheinlich auf die eine oder andere Weise schon eine ganze Menge Menschen
das Leben gekostet. Und je mehr man diesen Vogel begriff, seine Bedeutung zu
Lebzeiten wie seine Bedeutung hundertfünfzig Millionen Jahre danach, umso eher
würde man verstehen können, wieso eine bestimmte Person hatte sterben müssen.
Die beiden schönen Männer durchwanderten das kleine Museum,
betrachteten alte Fische und alte Schalentiere, Seelilien und Seegurken,
durchwanderten die frühen Meere und empfanden bei alldem eine gewisse
Zufriedenheit ob einer ausgewogen und diszipliniert dastehenden Natur. Wobei
dieser Eindruck vielleicht auch ein wenig der Aufgeräumtheit des Museums zu
verdanken war, den sauber ausgeleuchteten Schaukästen und Vitrinen, den
Inventarnummern und bildhaften Beschreibungen, vor allem aber der
Ãbersichtlichkeit, während man in den Sammlungen der groÃen Naturkundemuseen
einer geradezu absurden, wenn nicht sogar von Hilflosigkeit und Verwirrung
zeugenden Vielfalt begegnet. Hier in Solnhofen hingegen schien die Natur in all
den Millionen Jahren immer gewuÃt zu haben, was als nächstes zu tun sei. Und
als sich dann für ebendiese Natur die Frage aufgedrängt hatte, ob unhandliche
und zur MaÃlosigkeit und GroÃmannssucht neigende Saurier wirklich als Höhepunkt
der Schöpfung fungieren sollten, hatte sie sich dazu entschlossen, den
Archaeopteryx in die Welt zu setzen. Selbst bei heutiger Betrachtung kann
eigentlich gesagt werden, daà Vögel unter dem Strich sicher die perfektesten
Wesen sind. Den Göttern am nächsten, zumindest, wenn man sich Götter als
elegante, freifliegende Wesen vorstellt
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