Gewitterstille - Kriminalroman
der einer von unsichtbaren Fäden gezogenen Marionette emporschnellte und ihr Gesicht maskenhaft vor ihm auftauchte. Sie starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an. Nur für den Bruchteil einer Sekunde war er von seinem Vorhaben abgelenkt und unachtsam gewesen, und dieser Moment hatte ausgereicht, um sie aus dem Schlaf zu reißen. Ihr dünnes Nachthemd war ihr über die knochige Schulter gerutscht und ließ ihren Hals geisterhaft lang erscheinen, während aus ihrem weit aufgerissenen Schlund ein gellender Schrei hervorbrach. Ihre gespenstisch wirkenden Augen blickten ihn gleichermaßen angstvoll wie anklagend an. Es schien ihm, als starrten sie einander eine Ewigkeit lang gegenseitig an, ohne zu der kleinsten Bewegung imstande zu sein. Dann jedoch erwachte sie als Erste aus der Erstarrung und schleuderte ihm mit solcher Wucht die Nachttischlampe gegen den Kopf, dass er zurücktaumelte. Er war auf diese Situation nicht vorbereitet, spürte nur den pochenden Schmerz in der Schläfe und fühlte sich unfähig zu reagieren. Wie in einem Film, in dem er sich selbst von außen be trachtete, sah er sich für einen kurzen Moment hilflos vor dem Bett stehen und auf die alte Frau hinabblicken, auf ihren faltigen Hals, das schüttere graue Haar und ihre sehnigen, in einer abwehrenden Geste emporgereckten Hände. Er drückte die sich nach Kräften zur Wehr setzende Frau zurück in ihr Kissen und presste ihr schließlich eine Hand auf den Mund. Sie sollte still sein, einfach nur still sein, um Gottes willen nicht mehr schreien. Sie stöhnte und warf ihren Kopf wild hin und her. Er spürte ihre Angst und begann zu schwitzen, während er sie weiter mit festem Griff niederdrückte. Sie hatte mehr Kraft als erwartet. Ihre Zähne schnitten in das Fleisch seiner Hand und ließen auch ihn aufstöhnen. Er stolperte zurück und prallte gegen den Nachttisch. Dann endlich rannte er los. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, und er hastete die Treppe hinunter. Er spürte mehr, als dass er es hörte, wie das Haus, aus dem er flüchten wollte, zu erwachen begann. Sie hatte wahrscheinlich längst den Notknopf gedrückt und war ihrerseits auf den Flur hinausgetreten, wo sie laut um Hilfe schrie. Er rannte um sein Leben und stieß fast mit einer Nachtschwester zusammen, die gerade aus einem der Zimmer im Untergeschoss trat.
»Hey, stehen bleiben!«, rief sie, folgte ihm zu seiner Erleichterung aber nicht.
Endlich hatte er den Gemeinschaftsraum erreicht und steuerte auf das Fenster zu, das er Stunden zuvor für seine spätere Flucht geöffnet hatte. Er ließ das Licht aus, um nicht erkannt zu werden, sofern ihm jemand auf den Fersen war. Doch das Fenster war verschlossen, und sein Rütteln am Griff blieb erfolglos. Jemand musste den Raum noch lange nach dem Abendessen kontrolliert haben. Er verfluchte sich dafür, sich nicht kurz vor seinem Besuch im Obergeschoss noch einmal vergewissert zu haben, dass sein Fluchtweg gesichert war.
Wo waren diese verdammten Schlüssel? Panik stieg in ihm auf, denn er wusste, dass ihm keine Zeit blieb, danach zu suchen. Die Stimmen auf dem Flur kündigten Gesellschaft an. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn, während er zum nächsten Fenster der breiten Front eilte und auch an dessen Griff vergebens rüttelte. Die Tür wurde aufgerissen und das blendend grelle Neonlicht eingeschaltet. Er fühlte sich nackt. Schon meinte er die Hand zu spüren, die ihn packen wollte, während er den Griff des letzten Fensters zu erreichen versuchte, das über Freiheit oder Gefangenschaft entscheiden würde.
16. Kapitel
A nna klopfte mehrfach an, bevor sie endlich unaufge fordert in Sophies Wohnung eintrat und feststellte, dass sie nicht zu Hause war. Selbstverständlich war es Sophies Angelegenheit zu entscheiden, wann und wohin sie ging, dennoch wünschte sich Anna gerade jetzt, mehr über Sophie zu wissen. Da lief etwas zwischen Sophie und dem jungen Pfleger von nebenan, davon war Anna überzeugt. Nach ihrem Besuch bei dem Antiquitätenhändler hatte Anna versucht, mit Sophie zu reden. Sie hatte ihr auf den Kopf zugesagt, dass sie in dem Geschäft gesehen hatte, wie Sophie mit den Tränen kämpfte, als Anna Jens Asmus als den Verkäufer des Porzellans erkannt hatte. Sophie stritt jedoch ab, geweint zu haben.
Seither hatte Anna den Eindruck, dass sie überhaupt nichts mehr über sie erfuhr. Im Moment hatte sie allerdings weniger Zeit, sich über Sophies Gefühlswelt Gedanken zu machen, als darüber, dass Sophie ständig Annas
Weitere Kostenlose Bücher