Gewitterstille
eintrat. Anna begrüßte ihn mit einem flüchtigen Nicken und berichtete weiter. Sie hatte die Kommissare bereits am Morgen telefonisch über Sophies Verschwinden in Kenntnis gesetzt.
»Ich bin vorhin einkaufen gefahren und auf dem Rückweg nach Hause noch kurz zur Bank gegangen, um Geld zu holen. Dort fragte mich dann die Bankmitarbeiterin an der Kasse, wie der Umbau von Sophies Wohnung voranginge. Ich habe erst überhaupt nicht begriffen, wovon sie spricht, als sie mir erzählte, dass Sophie gestern Mittag 30 000,– Euro abgehoben hat, angeblich, um davon Handwerkerrechnungen zu bezahlen. Die Bankangestellte ging offenbar ganz selbstverständlich davon aus, dass ich von dieser Abhebung wusste. Als sie begriff, dass in unserem Haus überhaupt kein Umbau stattfindet und Sophie sich die Geschichte nur ausgedacht hat, war das für uns beide ziemlich peinlich.«
Anna sah Bendt mit ihren dunklen Augen verzweifelt an und konnte in seinem Blick sowohl Mitgefühl als auch Zuneigung erkennen.
Braun nahm drei Becher von der Fensterbank, füllte sie mit Kaffee und reichte Anna einen davon. Trotz der Milch, die sie hineingoss, schmeckte das Gebräu furchtbar bitter.
»Sie hat offenbar gemerkt, dass du ihr misstraust, und hat dich deshalb angelogen«, sagte Bendt und rückte für Anna den Besucherstuhl von Brauns Schreibtisch ab.
»Vermutlich«, sagte Anna und ließ sich auf den Stuhl fallen.
»Machen Sie sich nicht zu große Sorgen um Sophie. Sie wird sicher bald wieder auftauchen«, sagte Braun, dessen etwas behäbige Art stets beruhigend auf Anna wirkte.
Bendt, der sich neben Anna auf einen Stuhl gesetzt hatte, machte sie dagegen nervös. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr gegenüber Informationen zurückhielt.
»Können wir denn sicher sein, dass Sophie dem jungen Mann mit dem Geld Fluchthilfe leisten will, oder gibt es für die Abhebung vielleicht eine ganz banale andere Erklärung?«
»Ich wünschte, ich hätte eine vernünftige Erklärung«, sagte Anna.
Bendt sah sie an. »Ich fürchte, dass du mit deinem Instinkt bezüglich Sophie und Jens Asmus leider allzu richtig gelegen hast.« Er wich Annas fragendem Blick aus und wandte sich Braun zu. »Ich bin bis jetzt noch nicht dazu gekommen, es dir zu erzählen, aber der Kollege Krause ist bei seinen Ermittlungen auf die Spielbank in Hamburg gestoßen. Asmus ist vor ungefähr zwei Wochen dort ge wesen, angeblich in Begleitung einer jungen Frau im Rollstuhl. Sie sollen am Roulettetisch verliebt geschmust haben. Sie haben also offenbar wirklich eine Beziehung.«
»Im Casino? Sophie?«
»Jens Asmus ist offenbar spielsüchtig«, berichtete jetzt Braun. »Die Auswertung der Dateien auf seinem Laptop macht das ebenso deutlich wie die diversen Verfahrensakten, die wir inzwischen angefordert und eingesehen haben.«
»Er hat nicht nur im Internet Poker gespielt«, berichtete jetzt wieder Bendt, »er war auch in diversen Spielhallen und Spielbanken ein bekannter Kunde. In der Spielbank in Travemünde hat er bereits Hausverbot.«
»Dann hat er Frau Möbius also möglicherweise schon länger bestohlen, um seine Spielsucht zu finanzieren, und sie hat es herausgefunden?«, überlegte Anna. »Damit hätten wir jedenfalls das Motiv für einen Mord.«
»So stellt es sich für den Moment jedenfalls dar, Frau Lorenz«, bestätigte Braun. »Frau Möbius scheint allerdings nicht sein einziges Diebstahlsopfer gewesen zu sein.«
Braun zog den Bundeszentralregisterauszug aus der Akte und reichte ihn Anna.
»Fünf Eintragungen im Erziehungsregister, alle einschlägig.« Anna war sprachlos. Gleichzeitig fiel ihr auf, dass Asmus erst einundzwanzig war, weshalb er noch in die Zuständigkeit der Kollegen von der Jugendstaatsanwaltschaft fiel.
»Ich habe mit Ihrem Kollegen, Jugendstaatsanwalt Gereke, gesprochen, der für Asmus zuständig ist. Es gab neben den im Register erfassten Verfahren bereits diverse andere wegen Haus- und Familiendiebstahls gegen ihn, die nach Rücknahme des Strafantrags jeweils eingestellt wurden.«
»Er hat seine eigenen Eltern bestohlen?«
»Nicht ganz. Asmus’ Eltern haben sich scheiden lassen, als er fünfzehn war. Offenbar ist sein Vater dann nach Süddeutschland gezogen und hat sich bei seinem Sohn kaum mehr blicken lassen. Seine Mutter hat uns berichtet, dass er als Jugendlicher sehr unter der Trennung der Eltern gelitten hat. Dann kam das Übliche: ein Stiefvater, mit dem es in der Pubertät wohl heftige Auseinandersetzungen gab, bei denen
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