Gewitterstille
davonzufließen schienen. Der Anblick war betörend schön, und mit einem Mal erkannte sie die Brücke, auf der sie am Morgen gestanden und von der sie hinabgeblickt hatte. Das Wasser spielte eine leise Melodie und rief nach ihr. Das Verlangen, in den Spiegel hineinzusteigen, wurde immer stärker, und sie raffte ihre Röcke zusammen und streckte ein Bein aus …
Das Läuten des Telefons holte Petra in die Gegenwart zurück. Sie setzte sich auf und wartete, bis es schließlich verstummte. Nur Sekunden später klingelte es jedoch erneut. Sie musste rangehen. Petra lief die Treppe hinab und griff nach dem Hörer des cremefarbenen Wählscheibenapparats, der auf dem Telefontischchen im Flur stand.
»Mama …!« Sie konnte nicht mehr sagen, denn die Tränen schossen ihr in die Augen.
»Geht es dir gut, ist alles in Ordnung bei euch?«
»Ja.« Offenbar war ihre Mutter am Bahnhof. Im Hintergrund hörte Petra das Quietschen von in den Bahnhof einfahrenden Zügen und eine Lautsprecheransage. Sie hatte Mühe, die Worte ihrer Mutter zu verstehen.
»Gott sei Dank. Hör zu, Petra, ich bin auf dem Weg zu euch. Hast du mit deinem Vater gesprochen?«
»Nein, wieso? Ich denke, er ist oben.«
»Petra!« Ihre Mutter schrie jetzt fast, und ihre Stimme klang so besorgt, dass Petra aufhorchte. Dabei war es überhaupt nicht ungewöhnlich, dass man von ihrem Vater zu Hause nichts mitbekam. Wenn er schwermütig war, kam es vor, dass er sein Bett über Tage nicht verließ.
»Warum bist du eigentlich nicht bei Tante Gerda? Du solltest doch dort sein!«
»Ich …«
»Nicht so wichtig – hast du ihn gehört? Ist er da?«
»Ich weiß nicht – wieso …«
»Er hat herausgefunden, dass ich nicht bei Oma bin. Er weiß, dass ich in Hannover war. Ich mache mir Sorgen, ich … Verdammt, meine Münzen sind zu Ende. Ich steige jetzt gleich um, Petra. Du musst …«
Die Verbindung brach mit einem lauten Klicken am anderen Ende der Leitung ab. Petra stand wie versteinert im Flur, und die Stille, die sie umgab, schien sie plötzlich zu erdrücken. In ihrem Kopf schwirrte es. Ihre Mutter hatte offenbar noch nicht mit Tante Gerda gesprochen. Sie wusste also gar nicht, dass sie am Morgen aus der Schule weggelaufen war. Und weshalb war sie schon heute wieder auf dem Rückweg? Was hatte sie noch gesagt? Er hat herausgefunden, dass ich nicht bei Oma bin …
Petras Herz klopfte wild. Er hatte geweint und gebettelt, als ihre Mutter ihm angedroht hatte, diesmal Ernst zu machen und ihn in eine Klinik zu bringen. Aber er hatte nicht wissen sollen, dass sie nach Hannover gefahren war, um sich dort eine solche Einrichtung anzusehen.
Petra zögerte nun nicht mehr, sondern lief die Treppe hinauf und ging langsam auf die angelehnte Tür des Schlafzimmers zu. Ihr war vor Angst ganz schwindelig. Was, wenn er diesmal Ernst gemacht hatte? Was, wenn er sich diesmal wirklich umgebracht hatte? Sie klopfte an, aber er antwortete nicht. Es blieb totenstill. Langsam stieß sie die Tür auf und lugte hinein. Das Bett war zerwühlt und leer. Die kleine Lampe seines Nachttischs, auf dem sein Portemonnaie lag, war angeknipst, und durch das Fenster konnte sie sehen, dass es begonnen hatte zu schneien. Dicke weiße Flocken rieselten vom Himmel. Ihr Blick fiel auf einen Umschlag, der an die Nachttischlampe auf der anderen Seite des Doppelbettes gelehnt war. »Luise« stand auf dem sepiafarbenen Papier. Petra musste den Brief nicht lesen, um zu wissen, dass es sein Abschiedsbrief war. Ihre Augen huschten zu dem Haken hinter der Tür, an dem normalerweise sein Bademantel hing. Er war leer. Sie rannte hinaus auf den Flur und rief seinen Namen. Wo konnte er sein? Sie entschloss sich, ins Badezimmer zu gehen. Der Duschvorhang war zugezogen. Ihre Hände zitterten vor Anspannung, und sie kniff die Augen zu, als sie ihn zurückzog. Als sie endlich wagte, die Augen wieder zu öffnen, atmete sie vor Erleichterung laut aus. Die Wanne war leer. Sie lief zur Treppe. Es kostete sie Überwindung, in den Keller hinunterzusteigen, und sie begann zu weinen. Ganz langsam tastete sie sich am Geländer entlang, und während sie über den grell beleuchteten Flur auf die Tür seines Hobbykellers zusteuerte, wurde ihr erstmals klar, dass seine Krankheit und Todessehnsucht sie auch deshalb so sehr ängstigten, weil sie ebenfalls beides in sich selbst trug. Auch sie war anders.
Sie schluchzte vor Erleichterung, als sie ihn weder in seinem seit langer Zeit verwaisten Hobbyraum noch in der
Weitere Kostenlose Bücher