Gezeiten der Liebe
Erbrochenem stank, und sah zu, wie das Papier sich schwarz verfärbte und zerfiel. Sein Haß auf sie war ebenso schwarz.
Als er seine leeren Augen in dem fleckigen Spiegel sah, schwor er sich, daß er sie, wenn sie ihn noch einmal zu Hurendiensten zwang, töten würde.
»Ethan.« Das Herz klopfte Grace bis zum Hals, als sie sich hinkniete und ihn an den Schultern rüttelte. Seine Haut war eiskalt, sein Körper zu Stein erstarrt, obwohl er zitterte. Sie mußte an Erdbeben denken, an Vulkane. Kochende Urgewalten unter einer Felsschicht.
Die Laute, die tief aus seiner Kehle gedrungen waren, hatten sie aufgeweckt. Sie hatte von einem Tier geträumt, das in der Falle saß.
Er schlug die Augen auf. Sie sah sie im Dunkeln glitzern, blind, wild. Einen Moment lang fürchtete sie, daß die untergründige Gewalt, die sie spürte, hervorbrechen und sich über sie ergießen würde.
»Du hast geträumt.« Sie sagte es entschlossen, davon
überzeugt, daß sie Ethan nur so aus dieser Starre zurückholen konnte. »Jetzt ist alles gut. Es war nur ein Traum.«
Er konnte seinen rasselnden Atem hören. O nein, es war mehr als ein Traum. Es war der Erinnerungsblitz, der ihn seit Jahren nicht mehr heimgesucht hatte, die Erinnerung, die ihn in kalten Schweiß ausbrechen ließ. Die Folgen waren immer noch die gleichen. Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus, sein Kopf pochte, erfüllt von dem Echo der jämmerlichen Schreie eines kleinen Jungen. Er schauderte heftig, trotz der sanften Hände, die er spürte.
»Ich bin okay.«
Aber seine Stimme klang rauh, und sie wußte, daß er log. »Ich hole dir ein Glas Wasser.«
»Nein, mir geht’s gut.« Nicht einmal Wasser würde er jetzt in seinem zuckenden Magen behalten können. »Schlaf wieder ein.«
»Ethan, du zitterst.«
Er würde damit aufhören. Er konnte es, wenn er wollte. Dazu brauchte er nur ein wenig Zeit und Konzentration. Er sah, daß ihre Augen sich geweitet hatten. Angst sprach aus ihnen. Ihm war übel, und er war wütend, weil er die Erinnerung an jene Schrecken in ihr Bett getragen hatte.
Großer Gott, wie hatte er auch nur einen Augenblick lang glauben können, daß es anders werden könnte? Für ihn, für sie beide?
Er rang sich ein Lächeln ab. »Ich hab’ mich bloß erschrocken, das ist alles. Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.«
Beruhigt, weil sie wieder zumindest einen Schatten des Mannes, den sie liebte, in seinen Augen sah, strich sie ihm übers Haar. »Es muß ein furchtbarer Traum gewesen sein. Er hat uns beide erschreckt.«
»Ja, vermutlich. Ich erinnere mich nicht mehr.« Die nächste Lüge, dachte er unaussprechlich müde. »Komm, leg dich wieder hin. Jetzt ist alles in Ordnung.«
Sie kuschelte sich neben ihn, um ihn zu trösten, und legte eine Hand auf sein Herz. Es hämmerte. »Schließ einfach die Augen«, murmelte sie, wie sie es bei Aubrey getan hätte. »Schließ jetzt die Augen und ruh dich aus. Halt dich an mir fest, Ethan. Träum von mir.«
In der Hoffnung, Frieden zu finden, tat er beides.
Als sie aufwachte und er nicht mehr da war, versuchte Grace sich zu sagen, daß das Ausmaß ihrer Enttäuschung übertrieben war. Er hatte sie so früh nicht stören wollen, nur deshalb hatte er sich nicht von ihr verabschiedet.
Jetzt, da die Sonne schon hoch am Himmel stand, würde er bereits draußen auf dem Wasser sein.
Sie stand auf, schlüpfte in einen Morgenrock und ging barfuß in die Küche, um Kaffee zu kochen und ein paar Minuten für sich allein zu haben, bevor Aubrey aufwachte.
Dann seufzte sie und trat auf die kleine hintere Veranda hinaus. Sie wußte im Grunde, daß ihre Enttäuschung nicht daher rührte, daß er grußlos gegangen war. Sie war so sicher gewesen, so sicher, daß er sie bitten würde, seine Frau zu werden. Sämtliche Anzeichen hatten dafür gesprochen, es war der richtige Schauplatz, der ideale Moment gewesen. Aber die Frage war ausgeblieben.
Sie hatte praktisch das Drehbuch geschrieben, dachte sie und verzog das Gesicht, aber er hatte sich nicht daran gehalten. Dieser Morgen sollte eigentlich für sie beide der Beginn eines neuen Lebensabschnitts sein. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie zu Julie hinüberlaufen und die Freude mit ihr teilen würde, wie sie Anna anrufen und mit ihr plaudern, sie um Tips für die Hochzeit bitten würde.
Wie sie es ihrer Mutter erzählen würde.
Wie sie all das Aubrey erklären würde.
Statt dessen war es ein ruhiger Morgen.
Nach einer wunderbaren Nacht, schalt sie sich.
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