Gezeiten der Liebe
machen. Ich stelle eine Frage, du antwortest: Liebst du Grace?«
»Ja, aber ...«
»Beantworte nur meine Fragen«, unterbrach Anna. »Die Antwort lautet ja. Liebt Grace dich?«
»Schwer zu sagen – seit heute.« Er massierte die Stelle an seiner Brust, wo sie fast ein Loch in ihn gebohrt hatte.
»Die Antwort lautet ja«, sagte Anna kühl. »Seid ihr beide alleinstehende, ungebundene, erwachsene Menschen?«
Er bemerkte selbst, daß er zu schmollen begann, und das gefiel ihm kein bißchen. »Ja – und?«
»Ich kläre nur die Vorabinfos, sammle die Fakten. Grace hat ein Kind, richtig?«
»Du weißt ganz genau ...«
»Also ja.« Anna nahm ihre Tasse und trank einen Schluck Kaffee. »Magst du Aubrey?«
»Natürlich mag ich sie. Ich liebe sie. Wer würde das nicht tun?«
»Und mag sie dich?«
»Sicher. Was . . .«
»Wunderbar. Wir haben uns Klarheit über die Gefühle der beteiligten Akteure verschafft. Jetzt gehen wir zu den Lebensumständen über. Du hast einen Beruf und ein neues Geschäft. Du scheinst ein kompetenter Mann zu sein, der gern zupackt und über die Fähigkeit verfügt, bestens für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Hast du irgendwelche größeren Schulden gemacht, die du nur mit Mühe zurückzahlen kannst?«
»Um Himmels willen!«
»Ich wollte dich keinesfalls beleidigen«, sagte sie munter. »Ich nähere mich dem Thema nur so, wie du es tun würdest: mit Ruhe, Geduld, ein vorsichtiger Schritt nach dem anderen.«
Aus schmalen Augen sah er sie an. »Anscheinend haben in letzter Zeit mehrere Leute Probleme mit der Art, wie ich meine Entscheidungen treffe.«
»Ich mag die Art, wie du deine Entscheidungen triffst.« Sie griff nach seiner Hand und drückte sie. »Ich hab’ dich sehr gern, Ethan. Ich finde es großartig, in dieser Phase meines Lebens noch einen großen Bruder zu bekommen.«
Er rutschte auf seinem Stuhl herum. Ihr aufrichtiger Blick rührte ihn, aber er hatte auch das Gefühl, daß sie ihm bewußt etwas Nettes sagte, um ihn auf die bevorstehende Standpauke vorzubereiten. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht.«
»Ich denke, du wirst es schon herausfinden. Also, wir können davon ausgehen, daß du materiell abgesichert bist. Wie wir wissen, ist Grace bestens in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Du besitzt ein eigenes Haus, und ein Drittel dieses Hauses. Insofern ist die Unterkunft kein Thema. Weiter im Text. Glaubst du an die Institution Ehe?«
Er erkannte schon von weitem die Fangfrage. »Bei manchen Leuten funktioniert’s. Bei anderen nicht.«
»Nein, nein, glaubst du an die Institution an sich? Ja oder nein.«
»Ja, aber . . .«
»Warum, zum Teufel, kniest du dann nicht nieder, hältst einen Ring in der Pranke und bittest die Frau, die du liebst, deinem Dickkopf noch eine Chance zu geben?«
»Ich bin ein geduldiger Mensch«, sagte Ethan langsam, »aber allmählich bin ich es satt, mich beleidigen zu lassen.«
»Wag es ja nicht, von diesem Stuhl aufzustehen«, sagte sie warnend, als er ihn zurückschob. »Sonst kratze ich dir Augen aus. Ich hab’ weiß Gott größte Lust dazu.«
»Scheint auch ansteckend zu sein.« Er gab nur nach, weil es einfacher schien, es in einem Rutsch hinter sich zu bringen. »Dann mal los, sag, was du mir zu sagen hast.«
»Du glaubst, daß ich dich nicht verstehen kann. Du glaubst, daß ich nicht nachfühlen kann, was in deinem Innern an dir frißt. Du irrst dich. Ich wurde vergewaltigt, als ich zehn Jahre alt war.«
Der Schock rüttelte ihn auf, Schmerz drückte ihm das Herz ab. »Gott, Anna! Gott, das wußte ich nicht.«
»Jetzt weißt du es. Macht es eine andere aus mir, Ethan? Bin ich nicht dieselbe Person wie noch vor dreißig Sekunden?« Sie griff wieder nach seiner Hand und hielt sie diesmal fest. »Ich weiß, wie es ist, ohnmächtig und verängstigt zu sein und sich den Tod zu wünschen. Ich weiß, wie es ist, trotzdem etwas aus seinem Leben machen zu wollen und dabei immer dieses Entsetzen in sich zu spüren. Ganz egal, wieviel du gelernt hast, ganz egal, ob du es allmählich akzeptiert hast und weißt, daß es auf keinen Fall deine Schuld war – der Schmerz läßt dich nicht los.«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Es ist nie dasselbe. Es unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Aber wir haben noch etwas gemeinsam. Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. War er ein guter oder ein schlechter Mensch? Groß oder klein? Hat er meine Mutter geliebt, oder hat er sie nur benutzt? Ich weiß nicht, was ich von ihm geerbt
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