Gezeiten der Liebe
habe.«
»Aber du kanntest deine Mutter.«
»Ja, und sie war wunderbar. Wunderschön. Und deine nicht. Sie hat dich mißhandelt, körperlich und seelisch. Sie hat dich zu ihrem Opfer gemacht. Warum läßt du es zu, daß sie noch immer Macht über dich hat? Warum läßt du sie immer noch gewinnen?«
»Es geht jetzt um mich, Anna. In einem Menschen muß etwas gekippt, krank geworden sein, damit er so wird wie sie. Ich stamme von derselben Linie ab.«
»Die Sünden der Eltern, Ethan?«
»Ich nehme nicht ihre Sünden auf mich, ich spreche von ihrem Erbe. Man kann seine Augenfarbe weitergeben, seine Statur. Ein schwaches Herz, Alkoholismus, langes Leben. Solche Dinge können sich in einer Familie fortpflanzen.«
»Du hast eingehend darüber nachgedacht.«
»O ja. Ich mußte eine Entscheidung treffen, und das habe ich getan.«
»Also hast du entschieden, daß du niemals heiraten und Kinder haben kannst.«
»Es wäre nicht fair.«
»Nun, dann solltest du lieber bald mit Seth reden.«
»Mit Seth?«
»Irgend jemand wird ihm schließlich sagen müssen, daß er niemals eine Frau und Kinder haben darf. Am besten erfährt er es so früh wie möglich, damit er sich davor schützen kann, sich gefühlsmäßig auf eine Frau einzulassen.«
Drei Herzschläge lang konnte er sie nur anstarren. »Wovon redest du, verdammt noch mal?«
»Von seinem Erbe. Wir können doch nicht wissen, welche negativen Eigenschaften Gloria DeLauter an ihn weitergegeben hat. Sie ist innerlich weiß Gott gekippt, wie du sagst. Eine Hure, eine Trinkerin, ein Junkie, wie man hört.«
»Der Junge ist vollkommen in Ordnung.«
»Was spielt das für eine Rolle?« Sie hielt Ethans zornigem
Blick stand. »Wir dürfen nicht zulassen, daß er ein Risiko eingeht.«
»Du darfst ihn nicht mit mir in einen Topf werfen.«
»Wieso denn nicht? Ihr habt unter ähnlichen Umständen gelebt. Ja, auf dem Tisch der Sozialbetreuung landen viel zu viele Fälle, die Parallelen zu deinem und seinem Fall aufweisen. Ob wir ein Gesetz durchbringen könnten, das es Kindern von mißhandelnden Eltern verbietet, zu heiraten und eigene Kinder zu haben? Denk mal an die Risiken, die wir damit ausschalten würden.«
»Warum kastriert man sie dann nicht lieber gleich?« sagte er gehässig.
»Ein interessanter Vorschlag.« Sie beugte sich vor. »Wenn du derart entschlossen bist, keine kranken Gene weiterzugeben, Ethan, solltest du vielleicht über eine Sterilisation nachdenken.«
Das instinktive, typisch männliche Zusammenzucken brachte sie zum Lachen.
»Das reicht, Anna.«
»Ist es das, was du Seth empfehlen würdest?«
»Ich sagte, das reicht.«
»Oh, es reicht schon lange«, erwiderte sie. »Aber beantworte mir eine letzte Frage. Denkst du, daß gescheiten, traurigen Kindern ein erfülltes, normales Leben als Erwachsene verwehrt sein sollte, nur weil sie das Pech hatten, von einer herzlosen, vielleicht sogar bösen Frau geboren zu werden?«
»Nein.« Er stieß zitternd die Luft aus. »Nein, das denke ich keinesfalls.«
»Kein-, aber diesmal? Keine Einschränkungen? Dann muß ich dir sagen, daß ich vom professionellen Standpunkt aus ganz und gar deiner Meinung bin. Er soll alles haben, was er sich erwerben kann, was er sich schaffen kann, und alles, was wir ihm geben können, um ihm zu zeigen, daß er sein eigener Herr ist und nicht nur das beschädigte
Produkt einer schlechten Frau. Und das gleiche gilt für dich, Ethan. Du hast dein Leben in der Hand. Ein Vollidiot bist du vielleicht manchmal«, sagte sie lächelnd und stand auf, »aber auch liebenswürdig, anständig und ungeheuer lieb.«
Sie ging zu ihm und legte den Arm um seine Schultern. Als er seufzte und sein Gesicht an ihren Körper drückte, schossen ihr die Tränen in die Augen.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»O doch, das weißt du sehr gut«, murmelte sie. »Da du aber so bist, wie du bist, wirst du noch eine Weile darüber nachdenken müssen. Tu dir diesmal nur den Gefallen, ein bißchen schneller zu denken.«
»Ich schätze, ich gehe jetzt mal in die Bootswerkstatt, um einen klaren Kopf zu kriegen.«
Da plötzlich mütterliche Gefühle für ihn in ihr aufstiegen, bückte sie sich und küßte ihn auf den Kopf. »Soll ich dir was zu essen einpacken?«
»Nein.« Er drückte sie, bevor er aufstand. Als er sah, daß sie feuchte Augen hatte, klopfte er ihr auf die Schulter. »Nicht weinen. Cam reißt mir den Kopf ab, wenn er erfährt, daß ich dich zum Weinen gebracht habe.«
»Ich weine
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