Gezeiten der Liebe
sagte sich, daß sie sich jetzt unter Kontrolle hatte. So völlig unter Kontrolle, daß sie sich vornahm, mit Aubrey zu McDonald’s zu gehen, um ihr eine Freude zu machen. Und an ihrem nächsten freien Abend würde sie mit ihr
zum Fest der Feuerwehr fahren. Auf keinen Fall würde sie sich im Haus vergraben und Trübsal blasen.
Sie knallte die Wagentür nicht zu – in ihren Augen ein weiteres Zeichen dafür, wie ruhig und gelassen sie jetzt war, noch stampfte sie die Stufen zu dem hübschen im Kolonialstil erbauten Haus ihrer Eltern hoch. Sie blieb sogar kurz stehen, um die blaßlila Petunien zu bewundern, die vor dem Panoramafenster aus einem Hängetopf quollen.
Es war reines Pech, daß ihr Blick ein paar Zentimeter abschweifte – und sie ihren Vater im Panoramafenster erblickte. Er hielt auf seinem Lehnsessel hof wie ein König auf seinem Thron.
Ihre Wut kochte über und katapultierte sie durch die Haustür wie eine Schleuder.
»Ich habe dir einiges zu sagen.« Sie ließ die Tür hinter sich zukrachen und marschierte ins Wohnzimmer, wo sie vor dem Hocker, auf den Pete seine Füße gelegt hatte, stehenblieb. »Lauter Dinge, die sich schon lange in mir aufgestaut haben.«
Er starrte sie fünf Sekunden lang nur an, dann hatte er sein Gesicht in der Gewalt. »Wenn du mit mir reden willst, schlägst du gefälligst einen zivilisierten Ton an.«
»Ich bin es leid, zivilisiert zu sein. Mir steht es bis hier, zivilisiert zu sein.« Sie fuhr sich mit dem Finger über den Hals.
»Grace! Grace!« Mit geröteten Wangen und aufgerissenen Augen eilte Carol aus der Küche herbei. Aubrey saß auf ihrer Hüfte. »Was ist denn in dich gefahren? Du regst die Kleine auf.«
»Bring Aubrey wieder in die Küche, Mama. Es wird ihr schon kein lebenslanges Trauma bescheren, wenn sie hört, wie ihre Mutter die Stimme erhebt.«
Wie um zu beweisen, daß Streit unvermeidlich war, warf Aubrey den Kopf zurück und heulte laut los. Grace unterdrückte den Impuls, sie zu packen, fluchtartig mit ihr
das Haus zu verlassen und ihr Gesicht mit Küssen zu bedecken, bis ihre Tränen versiegt waren. Statt dessen blieb sie fest. »Aubrey, hör jetzt auf damit. Ich bin nicht ärgerlich auf dich. Geh mit Grandma in die Küche und trink ein Glas Saft.«
»Saft!« Aubrey brüllte das Wort schluchzend heraus und streckte die Arme nach ihrer Mutter aus. Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Carol, bring die Kleine in die Küche und beruhige sie.« Pete mußte gegen denselben Impuls ankämpfen wie Grace. Ungeduldig scheuchte er seine Frau hinaus.
»Das Kind hat den ganzen Tag keine einzige Träne vergossen«, murmelte er mit einem vorwurfsvollen Blick auf Grace.
»Tja, dafür hält sie sich jetzt schadlos«, fuhr Grace ihn an. Als Aubreys Schluchzen ins Wohnzimmer drang, kamen zu ihrer Frustration dicke Schuldgefühle hinzu. »Und fünf Minuten, nachdem sie getrocknet sind, hat sie alles vergessen. Das ist das Schöne daran, zwei Jahre alt zu sein. Wenn man älter wird, vergißt man Tränen nicht mehr so leicht. Du hast mich viele Tränen vergießen lassen.«
»Man kann keine Kinder aufziehen, ohne hin und wieder einen Tränenstrom zu provozieren.«
»Aber manche Leute schaffen es, Kinder aufzuziehen, ohne sie jemals wirklich zu kennen. Du hast mich nie richtig angesehen und dich bemüht herauszufinden, wer ich bin.«
Pete wünschte, er stünde ihr gegenüber. Und wünschte, er hätte Schuhe an. Man war eindeutig im Nachteil, wenn man ohne Schuhe in einem Lehnsessel lag. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Oder vielleicht hast du es ja doch gesehen – vielleicht täusche ich mich. Du hast es gesehen und hast es verdrängt, weil es nicht zu deinen Vorstellungen paßte. Du wußtest es«, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, die
dennoch bebte vor Wut. »Du wußtest, daß ich Tänzerin werden wollte. Du wußtest, daß ich davon träumte, und ließest es geschehen. Es hat dich nicht gestört, daß ich Unterricht nahm. Vielleicht hast du hin und wieder über die Kosten gemeckert, aber du hast bezahlt.«
»Und im Lauf der Jahre kam ein ganz hübsches Sümmchen zusammen.«
»Warum, Daddy?«
Er blinzelte. Seit fast drei Jahren hatte sie ihn nicht Daddy genannt, und es traf ihn mitten ins Herz. »Weil du unbedingt Unterricht nehmen wolltest.«
»Was hatte es für einen Zweck, wenn du nie an mich glaubtest, nie loslassen oder zurücktreten wolltest, so daß ich den nächsten Schritt tun konnte?«
»Das sind alte Geschichten, Grace.
Weitere Kostenlose Bücher