Gezeiten der Liebe
ihres Interesses zu nähern.
»Es läuft prima.«
Mrs. West verdrehte die Augen. Um diese spezielle Quelle anzuzapfen, mußte man offenbar stärkere Geschütze auffahren. »Dieses Mädchen, das Cam geheiratet hat, ist wirklich eine Schönheit. Sie wird ganz schön flink
sein müssen, um ihn bei der Stange zu halten. Er war immer ein ganz besonders Wilder.«
»Ich glaube, damit kann Anna umgehen.«
»Sie machen irgendwo im Ausland Flitterwochen, nicht wahr?«
»In Rom. Seth hat mir eine Postkarte gezeigt, die sie ihm geschickt haben. Sie sind zu beneiden.«
»Dabei muß ich immer an diesen Film mit Audrey Hepburn und Gregory Peck denken – wo sie eine Prinzessin ist. Solche Filme werden heute nicht mehr gedreht.«
»Ein Herz und eine Krone. « Grace lächelte wehmütig. Sie hatte eine Schwäche für romantische Filmklassiker.
»Ganz genau.« Grace sah Audrey Hepburn ziemlich ähnlich, fand Mrs. West. Die Haarfarbe stimmte natürlich nicht, da Grace so blond war wie ein Wikinger, aber sie hatte die gleichen großen Augen und das ein wenig unnahbare hübsche Gesicht. Und mager genug war sie weiß Gott auch.
»Ich war noch nie im Ausland.« Was in Mrs. Wests Verst ändnis zwei Drittel der Vereinigten Staaten einschloß. »Kommen sie bald wieder?«
»In ein paar Tagen.«
»Hmm. Tja, in dem Haushalt wird eine Frau gebraucht, keine Frage. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es dort zugehen mag, mit vier Männern unter einem Dach. Muß die meiste Zeit muffeln wie in einem Umkleideraum. Und ich hab’ noch nie von einem Mann gehört, der nicht danebenpinkelt.«
Grace lachte und wandte sich wieder den Fenstern zu. »So schlimm sind sie auch wieder nicht. Eigentlich hatte Cam den Haushalt ziemlich gut im Griff, bevor die vier mich engagiert haben. Aber der einzige von ihnen, der daran denkt, die Taschen zu leeren, bevor er seine Hose in den Wäschekorb stopft, ist Phillip.«
»Wenn das alles ist, geht’s ja noch. Vermutlich wird
Cams Frau sich um den Haushalt kümmern wollen, wenn sie zurückkommt.«
Grace’ Herz setzte einen Schlag aus, und ihre Hände krampften sich um das Knäuel aus Zeitungspapier zusammen, das sie zum Polieren der Scheibe benutzte. »Ich . . . Sie hat eine Vollzeitstelle in Princess Anne.«
»Oh, sie wird dem Haus mit Sicherheit ihren Stempel aufdrücken«, fuhr Mrs. West fort. »Einer frisch verheirateten Frau ist es wichtig, alles nach ihren eigenen Vorstellungen zu organisieren. Und es wird auch das Beste für den Jungen sein, endlich ein weibliches Wesen um sich zu haben. Ich weiß wirklich nicht, was Ray sich damals gedacht hat. Er hatte ja ein großes Herz, aber als Stella nicht mehr war . . . hat er schlicht die Orientierung verloren. Ein Mann in seinem Alter, der mir nichts, dir nichts einen kleinen Jungen zu sich nimmt! Ich muß schon sagen . . . Nicht, daß ich ein Wort von dem häßlichen Gerede glaube, das man immer wieder hört. Nancy Claremont ist die Allerschlimmste, die redet sich irgendwann noch um Kopf und Kragen.«
Mrs.West wartete kurz in der Hoffnung, daß Grace jetzt ebenfalls nicht an sich halten könne. Doch die starrte nur konzentriert auf das Fenster, das sie gerade geputzt hatte.
»Wissen Sie, ob dieser Versicherungsinspektor noch mal aufgetaucht ist?«
»Nein«, sagte Grace leise, »darüber weiß ich nichts. Hoffentlich nicht.«
»Ich wüßte nicht, was es der Versicherung bringen sollte, das Rätsel um die Herkunft des Jungen zu lüften. Selbst wenn Ray sich umgebracht haben sollte – und ich behaupte keineswegs, daß es so war –, können sie es nicht beweisen, oder? Denn schließlich« – sie hielt dramatisch inne, wie jedesmal, wenn sie ein unschlagbares Argument ins Feld zu führen glaubte – »waren sie nicht dabei!«
Bei den letzten Worten stahl sich eine triumphierende Note in ihre Stimme, wie schon am Morgen, als sie dasselbe zu Nancy Claremont gesagt hatte.
»Professor Quinn hätte nie Hand an sich gelegt«, murmelte Grace.
»Selbstverständlich nicht.« Aber für interessanten Gesprächsstoff sorgten die Spekulationen schon. »Der Junge . . . Sie brach plötzlich ab und spitzte die Ohren. »Da geht mein Telefon. Wenn Sie drinnen weitermachen wollen, kommen Sie einfach rein, Grace«, sagte sie, bevor sie ins Haus eilte.
Grace arbeitete sorgfältig weiter, obgleich sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen. Sie schämte sich, weil es ihr nicht möglich war, sich auf Professor Quinns Schicksal zu konzentrieren. Statt dessen
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