Gezeiten der Liebe
eine mehrstündige Schicht in der Bootswerkstatt einzulegen. Er wollte das Cockpit vollenden und eventuell noch mit dem Bau des Kabinendachs beginnen. Je mehr er schaffte, um so weniger Zeit würde verstreichen, bis Cam die Feinarbeiten in Angriff nehmen konnte.
Als er Grace’Wagen am Straßenrand stehen sah, fuhr er langsamer, dann hielt er kurz entschlossen an. Er schüttelte nur den Kopf, als er unter die offene Motorhaube spähte. Das verflixte Ding wurde nur noch durch Spucke und Gebete zusammengehalten, dachte er. Ein derart unzuverlässiges Fahrzeug gehörte längst auf den Schrottplatz. Was würde sie zum Beispiel tun, überlegte er säuerlich, falls die Klapperkiste sich entschloß, mitten in der Nacht den Geist aufzugeben, wenn sie gerade vom Pub nach Hause fuhr?
Als er genauer hinsah, pfiff er durch die Zähne. Der
Kühler war endgültig hinüber, und falls Grace vorhatte, dieses Teil ersetzen zu lassen, mußte er ihr das unbedingt ausreden.
Statt dessen würde er einen anständigen Gebrauchtwagen auftreiben und ihn für sie in Schuß bringen – oder aber Cam könnte das tun, der sich mit Motoren besser auskannte als jeder durchschnittliche Automechaniker. Jedenfalls würde er sie nicht mehr in so einer Schrottlaube herumfahren lassen – obendrein mit ihrer kleinen Tochter auf dem Kindersitz.
Plötzlich kam er zur Besinnung und trat ein paar Schritte zurück. All das ging ihn doch überhaupt nichts an . . . Oder doch? Und ob es ihn etwas anging, dachte er in einer Aufwallung von Zorn, die eigentlich gar nicht zu ihm paßte. Sie war schließlich eine Freundin der Familie, nicht wahr? Er hatte jedes Recht, einer Freundin zu helfen, vor allem wenn diese dringend Hilfe benötigte.
Und Grace – ob sie selbst es nun wahrhaben wollte oder nicht – brauchte weiß Gott jemanden, der auf sie aufpaßte. Er stieg wieder in seinen Transporter und fuhr mit finsterer Miene nach Hause.
Um ein Haar hätte er die Fliegentür mit Karacho hinter sich zugeworfen, hätte er nicht noch im letzten Moment die kleine Aubrey auf dem Sofa entdeckt. Sein Gesicht hellte sich auf. Vorsichtig zog er die Tür hinter sich zu und ging leise zu ihr. Ihre kleine Hand lag zur Faust geballt auf dem Polsterkissen. Er konnte nicht widerstehen, nahm sie sanft in die seine und staunte über die winzigen, vollkommenen Finger.Umeine ihrer Locken war eine Schleife gebunden, ein schmales blaues Spitzenband, das Grace ihr wohl heute morgen ins Haar geflochten hatte. Daß es jetzt schief herunterhing, machte nichts, so sah sie nur um so niedlicher aus.
Er hoffte, daß sie aufwachen würde, ehe er sich auf den Weg zur Bootswerkstatt machen mußte.
Doch jetzt sollte er erst mal ihre Mutter suchen und über die leidige Autofrage mit ihr sprechen.
Er legte den Kopf auf die Seite und horchte. Oben war es zu still, dort arbeitete sie nicht. Als er ihn die Küche ging, sah er dort die Überreste seines hastigen Frühstücks. Sie hatte es noch nicht geschafft, hier aufzuräumen. Aber die Waschmaschine summte, und er sah Wäsche an der Leine vor dem Haus flattern.
Als er in die Tür trat, entdeckte er sie. Und geriet sofort in Panik. Er wußte nicht, was er dachte, wußte nur, daß sie auf dem Boden, im Gras lag. Entsetzliche Bilder von plötzlicher Krankheit und Unfällen stürmten auf ihn ein, als er nach draußen stürzte. Erst als er fast vor ihr stand, erkannte er, daß sie nicht ohnmächtig war, sondern nur schlief.
Sie lag genauso zusammengerollt da wie ihre kleine Tochter drinnen, eine Faust an dieWange geschmiegt und tief und regelmäßig atmend. Da seine Knie unter ihm nachgaben, ließ er sich neben ihr im Gras nieder und wartete, bis sein Herzschlag sich wieder einigermaßen normalisiert hatte.
Er hörte das Knattern der Wäsche an der Leine, hörte, wie dasWasser am Seegras leckte und wie die Vögel zwitscherten, während er sich fragte, was er jetzt mit ihr anfangen sollte.
Schließlich seufzte er nur, stand auf, bückte sich und nahm sie auf den Arm.
Sie regte sich und schmiegte sich an ihn, so daß sein Blutdruck steil in die Höhe ging. »Ethan«, murmelte sie und bettete das Gesicht in die Kuhle an seinem Hals. Wilde Phantasien, in denen er sich mit ihr im sonnenwarmen Gras wälzte, schossen ihm durch den Kopf.
»Ethan«, sagte sie wieder und fuhr mit den Fingern über seine Schulter. Prompt steigerte sich seine Erregung fühlbar. Dann erneut »Ethan«, doch diesmal schrill und
erschrocken. Ruckartig hob sie den Kopf und
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