Gezeiten der Liebe
Spaziergang gab ihr die Gelegenheit, sich mal richtig umzusehen. Geißblatt rankte sich um den Zaun, der ein in Reih und Glied mit Sojabohnen bepflanztes Feld einfaßte, und verströmte einen berauschenden Duft. Sie pflückte eine Blüte für Aubrey.
Als sie schließlich das Marschland erreichten, das an das Grundstück der Quinns stieß, taten ihr die Arme weh. Sie hielten an, um eine Schildkröte zu beobachten, die sich am Straßenrand sonnte. Aubrey streckte die Hand aus, um sie zu berühren, und kicherte, als das Tier daraufhin blitzschnell den Kopf einzog.
»Kannst du jetzt mal eineWeile selbst gehen, Kleines?«
»Müde.« Aubrey hob bittend die Arme. »Hoch!«
»Na schön, dann trage ich dich eben wieder. Wir sind fast da.« Es war längst Zeit für Aubreys Mittagsschlaf, dachte Grace. Die Kleine schlief jeden Tag direkt nach dem Mittagessen fast auf die Minute genau zwei Stunden. Wenn sie aufwachte, war sie dann wieder in Hochform.
Als Grace die Verandastufen hochstieg und ins Haus ging, war die Kleine schon eingenickt. Aubreys Kopf lag schwer an ihrer Schulter.
Nachdem Grace sie aufs Sofa gebettet hatte, eilte sie nach oben, um die Betten abzuziehen und die schmutzige Wä- sche einzusammeln und zu sortieren. Als die erste Ladung in der Waschmaschine steckte, rief sie den Automechaniker an, der schon Übermenschliches geleistet hatte, um ihren dahinsiechendenWagen am Leben zu erhalten.
Danach lief sie wieder nach oben und zog frische Laken auf die Betten. Um sich die vielen Wege zu ersparen, hatte sie in jedem Stockwerk Putzutensilien gelagert. Zun ächst nahm Grace das Bad in Angriff, wo sie schrubbte und wienerte, bis Chrom und Fliesen in funkelndem Glanz erstrahlten.
Dies war ihr letzter voller Arbeitstag im Hause der Quinns vor der Rückkehr von Cam und Anna. Aber irgendwann während des Eineinhalb-Kilometer-Marschs von ihrem liegengebliebenen Wagen hierher hatte sie sich überlegt, daß sie sich am Tag ihrer Ankunft mindestens zwei Stunden freihalten würde, um schnell noch mal über Böden und Möbel zu gehen.
Sie war schließlich stolz auf ihre Arbeit, oder nicht? Und eine Frau würde doch bestimmt honorieren, wie ordentlich es hier war – die sauberen Ecken und Winkel, die Mühe, die Grace sich gab, um im Haus für Gemütlichkeit zu sorgen. Eine Karrierefrau wie Anna, eine Frau mit einem anspruchsvollen Beruf, würde doch erkennen, daß sie, Grace, hier gebraucht wurde, oder etwa nicht?
Sie hastete nach unten, um nach Aubrey zu sehen, die nasse Wäsche aus der Maschine in einen Korb umzufüllen und die zweite Ladung hineinzustecken.
Ach ja, und sie würde dafür sorgen, daß frische Blumen im Schlafzimmer standen, wenn das junge Paar zurückkam, und daß die feinen Handtücher bereitlagen. Dann würde sie Phillip noch eine Nachricht hinterlassen, daß er frisches Obst besorgen solle, damit sie die Früchte als hübschen Blickfang in einer Schale auf dem Küchentisch arrangieren konnte.
Sie wollte sich auch die Zeit nehmen, die Hartholzböden zu bohnern und die Vorhänge zu waschen und zu bügeln.
Schnell hängte sie die Wäsche an die Leine, ohne daß sich die gewohnte Befriedigung bei dieser Arbeit einstellte. Dennoch hatten die Routine-Handgriffe eine beruhigende Wirkung auf sie. Irgendwie würde schon alles klappen.
Auf einmal merkte sie, daß sie taumelte, und schüttelte den Kopf, um sich wieder zu fangen. Die Müdigkeit hatte sie urplötzlich aus dem Takt gebracht, wie ein Schlag ins Gesicht. Hätte sie sich die Mühe gemacht, nachzurechnen,
wie lange sie heute schon auf den Beinen war, dann wäre sie auf sieben Stunden gekommen, wobei sie in der Nacht zuvor nur ganze fünf Stunden geschlafen hatte. Daß sie noch zwölf Stunden vor sich hatte, wußte sie allerdings, ohne große Berechnungen anzustellen. Sie brauchte unbedingt eine Pause.
Nur zehn Minuten, sagte sie sich und streckte sich, wie schon manches Mal zuvor, in der Nähe der flatternden Wäsche im Gras aus. Ein zehnminütiges Nickerchen würde ihr neue Energie geben und ihr noch genug Zeit lassen, die Küche zu putzen, bevor Aubrey aufwachte.
Ethan fuhr vom Hafen aus nach Hause. Er hatte seinen Arbeitstag draußen auf dem Wasser verkürzt und Jim den Kutter überlassen, damit der mit seinem Sohn noch einmal rausfahren konnte, um die Fallen im Pocomoke zu überprüfen. Seth war mit Danny und Will unterwegs, und Ethan hatte vor, auf die Schnelle einen verspäteten Mittagsimbiß zu sich zu nehmen und anschließend
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