Gezeiten der Sehnsucht - Feehan, C: Gezeiten der Sehnsucht - Dangerous Tides (4 - Libby)
aufrechtere Haltung ein. Sie konnte seinen Schmerz fühlen, einen Schmerz, den er so tief in seinem Innern begraben hatte, dass er sich dessen wahrhaftig nicht bewusst war. »Ty, sie haben dich doch nicht wirklich zu siebenundzwanzig Psychiatern geschickt, oder?« Sie litt mit ihm, mit dem kleinen Jungen, den nie einer verstanden hatte.
»Und wie sie das getan haben. Sie wollten unbedingt erreichen, dass ich normal werde. Ich glaube, sie fanden es toll, darüber zu reden, dass ihr Sohn ein Genie ist, aber das Zusammenleben mit einem genialen Sohn war etwas ganz anderes. Ich habe über Dinge gesprochen, an denen sie keinerlei Interesse hatten und für die sie auch kein Verständnis aufbringen konnten. Ich habe oft von ihnen zu hören bekommen, mit meinem ungeselligen Benehmen brächte ich sie in größte Verlegenheit. «
Libby kniff die Lippen zusammen, um zu verhindern, dass sich Mitgefühl auf ihrem Gesicht ausdrückte, denn sie wusste genau, dass er ihr Mitgefühl nicht haben wollte. Sie hatte wunderbare Eltern, die ihre Kinder immer abgöttisch geliebt hatten. Ihre Schwestern waren liebevoll und stets hilfsbereit, und für ihre Tanten und Onkel und Cousins und Cousinen galt dasselbe. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es Eltern gab, die ihr Kind nicht um sich haben wollten oder gemeine, verletzende
Dinge zu ihrem einzigen Sohn sagten. Tränen schnürten ihre Kehle zu und schimmerten in ihren Augen.
»Schau nicht so traurig, Libby«, sagte Ty. Er streckte eine Hand aus und fuhr mit einem Finger die Spur einer Träne auf ihrer Wange nach. »Nach einer Weile ist es mir gar nicht mehr aufgefallen. Mich haben ganz andere Dinge beschäftigt. Ich glaube, die Meinung, die meine Eltern von mir hatten, hat mir unglaublich zu schaffen gemacht, als ich etwa sieben oder acht Jahre alt war. Aber dann habe ich mich mit der Tatsache abgefunden, dass ich anders bin und dass sie sich nicht ändern werden. Als mir das erst einmal klar geworden war, habe ich mich den Dingen zugewandt, die mich wirklich interessiert haben. Und außerdem hatte ich Tante Ida. Sie hat mich zwar vielleicht nicht wirklich verstanden, aber sie hat mich geliebt und wollte mich immer bei sich haben. Sie hat mir den gesamten Keller als Labor überlassen. Ich fühlte mich wie im Himmel. Meine Eltern wollten nicht, dass ich mit Chemikalien oder sonst etwas hantiere. Tante Ida hat mich zu meinen Experimenten ermutigt. Nach einer Weile wollte ich am liebsten ganz hier in Sea Haven bleiben, bei ihr und Sam. Es war alles viel einfacher.«
»Aber du bist nicht hier geblieben.«
»Nein, meine Eltern haben mich ab und zu wieder zu sich genommen, damit wir in einem Bericht in irgendeiner Zeitschrift gut dastehen. Sie haben es versucht, versteh mich nicht falsch, sie wollten wirklich prima Eltern sein, aber sie hatten keine Ahnung, wie sie mit einem Sohn wie mir umgehen sollten.«
»Ich habe erst kürzlich von ihrem Tod erfahren. Was ist passiert? «
»Ein Flugzeugabsturz. Vor etwa zwei Jahren. Ich habe immer noch nicht alles geregelt. Der Nachlass hat mich restlos überfordert. Die meiste Zeit verkrieche ich mich im Labor und versuche, all das zu vergessen, obwohl ich weiß, dass ich mich damit befassen muss. Aber für mich hat das eben keinen Vorrang.
Sam und ich haben uns gerade erst vor ein paar Wochen darüber unterhalten. Er hat mir den meisten Kleinkram abgenommen und viele Angelegenheiten überwacht, aber ich kann nicht von ihm erwarten, dass er das noch lange tut. Er hat schließlich sein eigenes Leben, und das Verwalten des Nachlasses ist eine aufwendige Angelegenheit.«
»Du stehst deinem Cousin sehr nah, stimmt’s?«
»Er ist für mich eher ein Bruder als ein Cousin. Er tut sein Bestes, um mich zu verstehen.« Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und ließ seine scharf geschnittenen Züge weicher und beinah knabenhaft wirken. »Den Versuch, mit mir und zwei Frauen auszugehen, hat er allerdings aufgegeben. Er behauptet, ich sei ätzend.«
»Das muss man sich mal vorstellen.«
Er zuckte die Achseln. »Geistlose Gespräche langweilen mich schnell. Ich bemühe mich zwar, den Mund zu halten und einfach nur zuzuhören, aber nach einer Weile halte ich es nicht mehr aus, und dann muss ich gehen. Ich sehe das als das kleinere von zwei Übeln an, aber dieser Meinung sind die Frauen bedauerlicherweise nicht.«
»Du machst nicht den Eindruck, als würde dich das stören.« Er zog den Kopf ein. »Nicht besonders. Ich wünschte, es würde mir
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