Gezeiten des Krieges
reichte ihn ihr.
Jenna faltete ihn auf und las. »Sie bieten dir das Bürgerrecht an.« Ihre Augen glänzten wie polierte Jade, als sie zwischen dem Papier und Evan hin- und herschaute. »Wir wussten schon immer, dass du was vor uns verbirgst, Evan Kurst. All die Arbeit fürs Gemeinwohl und für den Wahlkampf. Du wirst offiziell.«
Es war sanfter Spott, doch Evan verspannte sich trotzdem. »Du hältst es nicht für verdächtig?«
»Warum? Ach, wegen des Krieges?« Zumindest wies sie den Gedanken nicht auf der Stelle zurück. »Du glaubst, David könnte Recht haben, dass die Regierung Druck ausübt, uns einzuziehen?«
»Der Gedanke ist mir allerdings gekommen.«
Das Bürgerrecht der Republik war kein automatisches Recht, es musste verdient werden. Einwohner verfügten über weitgehend dieselben Rechte wie Bürger. Sie konnten nur weder Titel noch größere Güter besitzen. Und sie besaßen kein Wahlrecht. Gouverneurin Lu Pohls Triumph hatte zu einem beachtlichen Teil daraus bestanden, dass sie genug Bürger - Bewohner Liaos, die der Republik freundlich genug gegenüberstanden, zu deren Wohl tätig zu werden - überredet hatte, trotzdem stolz auf ihr ca-pellanisches Erbe zu sein.
Evans Zieheltern hatten daran geglaubt, auch wenn ihre procapellanische Haltung trotz sechzehn Jahren als Eigentümer eines Heims für Kriegswaisen verhindert hatte, dass sie selbst das Bürgerrecht erlangten. In der Fantasie, die er mit allen Waisen teilte, glaubte Evan daran, dass es seine richtigen Eltern ebenso gesehen hätten. Deshalb hatte er sich engagiert. Nicht, um sich das Bürgerrecht zu verdienen.
Und ausgerechnet jetzt?
»>Auf der Grundlage Ihrer bisherigen Leistungen für die Republik<«, las Jenna vor und ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen, »>und Ihres Einsatzes für ihre Verteidigung<« Sie reichte den Brief zurück. »Du hättest diesen Brief jederzeit bekommen können. Du hast es verdient.«
Er steckte den Brief wieder ein und deutete mit einer Kopfbewegung in den Regen. Jenna trat zuerst ins Freie, ohne sich um den Regen zu kümmern, der ihre fest geflochtenen Haare durchnässte. Evan reichte ihr seinen Tornister und hielt die Jacke hoch über den Kopf, weit genug, um ihnen einen Regenschutz zu verschaffen. Er brachte sie bis unter die Bäume, wo schwere, fette Tropfen durch das Blätterdach fielen. Doch es waren zu wenige, als dass sie ihnen etwas ausgemacht hätten. Evan zog die Jacke wieder auf die Schultern.
»Tatsächlich ...«, setzte er an, überlegte es sich dann beinahe anders, sprach aber doch weiter, »habe ich es mir schon vor zwei Jahren verdient. Doppelte Anrechnung für meine politische Wahlkampfarbeit und die Akademiejahre. Warum habe ich den Brief damals nicht bekommen?«
Weil er als potenzieller KonföderationsSympathisant galt? Weil sich die Republik damals keine Gedanken um ihn gemacht, sondern ihn bei der Miliz auf einem Sackgassenposten kaltstellen oder wegen Mangels an freien Stellen gar nicht erst übernehmen wollte? Jenna bot ihm keine anderen Erklärungen an, denn eigentlich wussten beide Kadetten, dass es sich genau so verhielt. Die Republik wollte ihn bestechen, wahrscheinlich um ihn in den Krieg einzuziehen. Und ein Soldat mit Bürgerrecht hatte mehr Grund zu kämpfen.
»Du wirst natürlich trotzdem annehmen.«
Wann hatte er das gesagt? »Ich weiß nicht«, erwiderte er. »Würdest du es tun?«
»Ja klar. Sicher. Ich meine, du musst Teil des Systems werden, um es verändern zu können, oder?« Sie grinste und versuchte einen Witz. »Trotz des Ijori De Guäng.«
Der Schuss ging nach hinten los. Schweigen breitete sich zwischen den beiden aus. Sie erreichten das Gebäude der Geisteswissenschaften und schüttelten die Regentropfen ab. Jenna peitschte die geflochtenen Haarsträhnen hin und her und das Wasser flog in alle Himmelsrichtungen. Sie schaute mehrmals zu ihm hinüber, sagte aber nichts, bis sie im Hauptkorridor zwischen den anderen Studenten auf dem Weg in Seminarräume und Hörsäle waren.
»Findest du, ich sollte Rogers' CGuK-Kurs fallen lassen«, fragte sie. »Ich meine, wenn die Republik auf so etwas momentan wirklich achtet...«
»Ich lasse mich nicht gerne manipulieren«, erklärte Evan knapp. Er nickte ihr zu, in den Hörsaal vorauszugehen. »Egal von wem.«
Dann berührte ihn eine Hand auf der Schulter und hinderte ihn daran, ihr zu folgen. »Nein«, stellte eine leise Stimme fest, als ihn die Hand herumdrehte.
»Deinen eigenen Weg zu suchen, ist dir nie
Weitere Kostenlose Bücher