Gezeitengrab (German Edition)
kein Weg nach oben, und die Felsen sind zu steil, um hinaufzuklettern.
«Wie weit ist es noch?», fragt sie.
«Gleich hinter der nächsten Landzunge.»
Sie klettern über ein paar Felsen, die mit kleinen Krebsen und verkrusteten Muscheln übersät sind, und vor ihnen erstreckt sich eine breitere Bucht, als hätte jemand einen perfekten Halbkreis aus den Sandsteinfelsen gehauen. Im seichten Wasser ragt unverkennbar ein Bootsrumpf empor. Das Wasser hat das Holz bereits stark zerfressen, Ruth sieht den blauen Himmel durch den Bug schimmern, doch die Form ist unverkennbar: ein mittelgroßes Boot, etwa so wie das Polizeiboot, mit dem sie zum Leuchtturm gefahren sind. Es wirkt zugleich bedrohlich und merkwürdig traurig.
«Hast du eine Ahnung, wie alt es ist?» Ruth watet ins Wasser, obwohl sie ausgerechnet diesmal keine Gummistiefel anhat. Das Wasser ist eiskalt.
«Keine Ahnung, aber dem Zustand nach zu urteilen, würde ich sagen, so sechzig, siebzig Jahre.»
Ruth kennt sich nicht aus mit dem Zustand von Booten, aber dieses hier macht den Anschein, als läge es schon ewig dort. «Wie kommst du darauf, dass es ein Feuerschiff sein könnte?», will sie wissen.
«Es sind Fässer drin», antwortet Craig. «Schau ruhig rein.»
«Wir sollten uns beeilen.» Ruth blickt zum Meer und zu den Wellen, die erschreckend rasch näher kommen.
«Ach was», meint Craig. «Wir haben alle Zeit der Welt.»
Als Stella zurück ins Zimmer kommt, steht Nelson immer noch am Fenster und schaut hinaus.
«Wie geht es ihr?», fragt er.
«Den Umständen entsprechend. Sie ist ganz friedlich.» Wieder dieser resignierte Ton. Er fällt wie ein Schatten über den sonnigen Nachmittag, und dieser Schatten liegt auch auf Stellas Gesicht, als sie neben Nelson ans Fenster tritt.
Vom Garten von Sea’s End House ist nur noch ein schmaler Streifen übrig, vielleicht einen Meter breit, der sich am Haus entlangzieht. Alles andere ist verschwunden. Doch irgendwer hat sich auch mit diesem winzigen Rest noch Mühe gegeben. Nelson sieht einen kleinen Rasen und gepflegte Blumenbeete.
«Seltsam, nach dem Schnee gleich die Blumen blühen zu sehen», sagt Stella. «Diese Frühblüher sind doch robuster, als man denkt.»
«Arbeiten Sie gern im Garten?», fragt Nelson. Er selbst mag das nicht besonders, mäht aber gern den Rasen. Michelle hat eine Schwäche für Garten-Center – die sind für sie das Paradies.
«Nein, dafür lassen wir jemanden kommen. Er hat zwar inzwischen kaum noch etwas zu tun, aber er kümmert sich schon ewig um unseren Garten. Wie sein Großvater vor ihm.»
In Nelsons Hinterkopf regt sich etwas, während er die spillerigen Tulpen betrachtet, die sich durch den kalkigen Boden nach oben gearbeitet haben.
«War der nicht auch bei der Home Guard? Ihr früherer Gärtner?»
«Richtig. Donald Drummond. Er war Buster treu ergeben. Und Irene.»
Und Nelson hört wieder Hugh Anselms Stimme, so klar und deutlich, als würde er aus Lautsprechern damit beschallt: Donald erklärte, das seien doch nur dreckige Nazis, die mit uns auch nicht anders umspringen würden. Donald Drummond, der Gärtner.
Und als drehte sich ein Kaleidoskop vor ihm, so schnell, dass die Farben ineinanderfließen und die Formen miteinander verschwimmen, sieht Nelson sich wieder aus Archie Whitcliffes Zimmerfenster schauen. Er sieht einen Gärtner, der den Rasen mäht. Dann sieht er sich vor Hugh Anselms betreuter Wohnanlage, bewundert den Garten, der so schön gepflegt ist, den frisch gemähten Rasen, die frisch bepflanzten Beete.
«Wie heißt denn Ihr jetziger Gärtner, der Enkel von Donald?», fragt er so barsch, dass Stella unwillkürlich zurückweicht.
«Craig. Ich dachte, Sie kennen ihn. Er ist auch Archäologe. Er gehört zu Ruths Team.»
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30
Der Bootsrumpf ist so verwittert und verkrustet, dass es aussieht, als wäre er mit den Felsen ringsum verschmolzen. Ruth kann Pfützen aus abgestandenem Wasser erkennen, Muscheln, die wie ekelerregende Geschwüre am Holz kleben, eine Krabbe, die ängstlich über die Reste einer Sitzbank eilt. Doch die Grundstruktur bleibt sichtbar, es gibt sogar noch eine verwitterte Kabine mit verriegelter Tür, und im hintersten Teil des Schiffes, halb unter Wasser, liegen zwei versiegelte Fässer. Ruth beugt sich vor und zieht etwas unter dem einen Fass heraus. Es sieht aus wie Watte, fleckig und vom Salzwasser verfärbt, doch mit dem unverkennbaren Geruch nach Schwefel. Schießwolle.
Ruth schaut zu Craig, der
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