Gezeitengrab (German Edition)
über den Bootsrand lugt.
«Wie kommt es, dass das noch keiner bemerkt hat? Bei Ebbe ist es doch bestens zu sehen.»
«Oh, die Leute wissen alle davon. Es ist sogar auf den Umgebungskarten eingezeichnet. Nur hat bisher noch niemand die Verbindung zu den Feuerschiffen gezogen, soviel ich weiß.»
Womöglich, denkt Ruth, war das Boot ja schon ein Wrack, als Hastings und seine Mannen es präpariert haben. Es lag vielleicht schon jahrelang in dieser einsamen Bucht. Hastings muss davon gewusst haben, er kannte jeden Zentimeter der Küste, davon ist Ruth überzeugt. Wahrscheinlich ist er in Syd Austins Boot hergekommen, zusammen mit Ernst, dem gewieften Wissenschaftler, und hat den verwitternden Schiffsrumpf mit Sprengstofffässern voll todbringender Schießwolle versehen. Vielleicht gab es sogar irgendeine Möglichkeit, die Sprengladung aus der Ferne zu zünden. Die Explosion hätte das ganze Meer in Flammen gesetzt.
«Was wohl in der Kabine ist?», überlegt Ruth. «Die ist verschlossen.»
«Lass mich mal sehen.» Craig klettert über den Bootsrand.
«Seltsam», meint Ruth. «Das Schloss sieht so neu aus. Es ist kein bisschen rostig.»
«Komisch.» Craig tritt neben sie. Obwohl das Boot fest zwischen die Felsen gezwängt ist, schwankt es leicht, als sie beide darin stehen. Das Holz knarrt, und Ruth fragt sich, ob es wohl halten wird.
Der Riegel lässt sich leicht zurückschieben. Viel zu leicht. Ruth verspürt eine erste, leise Ahnung von Gefahr, wie einen Schauer. Sie hört das Meer herandonnern, die Möwen über ihren Köpfen. Die Flut hat eingesetzt.
«Schau mal rein», sagt Craig.
In plötzlicher Angst dreht Ruth sich zu ihm um. Es dauert ein paar Sekunden, bis ihr klarwird, dass sie in den Lauf einer Pistole blickt.
Nelson wählt Ruths Handynummer. Sie geht nicht ran. Während Stella ihm noch erstaunt nachsieht, rennt er aus dem Haus, die Einfahrt und dann den Küstenpfad entlang. Auf dem Parkplatz steht Ruths Wagen, daneben nur ein einziger weiterer, ein blauer Nissan.
Nelson tritt an die Brüstung und schaut aufs Meer hinaus. Die Flut hat eingesetzt, schaumgekrönte Wellen rollen heran und brechen sich an den Überresten der viktorianischen Deichmauern. Am Strand ist niemand zu sehen. Dort, wo die Leichen gefunden wurden, flattert polizeiliches Absperrband im Wind. Nelson schaut auf die Uhr. Es ist fünf. Eine ganz harmlose Uhrzeit. Michelle schneidet sicher gerade jemandem die Haare und plaudert über Urlaubsreisen. Rebecca ist aus der Schule zurück, mampft zu Hause Toast und amüsiert sich mit ihren rätselhaften Online-Freunden. Clough fragt herum, ob noch jemand nach Feierabend mit in den Pub kommt, und Judy reagiert nicht darauf. Und Ruth? Ruth sollte eigentlich Katie bei der Tagesmutter abholen. Stattdessen steht ihr Wagen aber hier, und sie ist weit und breit nicht zu sehen. Was hat sie noch gleich gesagt? Craig, einer von den Feldarchäologen, hat mich eben angerufen, weil sie am Strand hinter Broughton ein Wrack gefunden haben.
Nelson geht zum Haus zurück und folgt dem steilen Pfad hinunter zum Strand. Diesen Weg haben auch Captain Hastings und seine Männer in jener mondlosen Nacht genommen. Aber jetzt ist ein schöner Frühlingsnachmittag. Ruth kann unmöglich in Gefahr sein. Er schaut zum Haus hinauf, diesem spukschlossartigen Dreißiger-Jahre-Irrsinn, dessen düstere graue Mauern aus dem Felsen herauszuwachsen scheinen. Drinnen liegt eine kranke, vielleicht sterbende Frau. Er denkt an den Schatten auf Stella Hastings’ Gesicht und fröstelt.
Ich gehe an den Strand von Broughton hinunter und schwimme über Sea’s End Point hinaus. Ich werde schwimmen und immer weiter schwimmen, bis ich nicht mehr weiter schwimmen kann, und dann soll das Meer mich holen.
Danny West ist von diesem Strand aus in den Tod geschwommen. Dieter Eckhart wurde hier getötet und auf diese Felsen hinuntergeworfen. In der Höhlung unter der Felswand wurden sechs ermordete Männer verscharrt. Hugh Anselm war offenbar der Ansicht, der Strand von Broughton habe eine ungesunde Atmosphäre. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was er dort erlebt hat – doch obwohl er es nicht in Worte fassen konnte, hat auch Nelson etwas Ähnliches empfunden, als er zum ersten Mal in diese schmale Bucht hinabgeschaut hat, zwischen der Felswand auf der einen und dem großen grauen Haus auf der anderen Seite. Ein Ort, der den Tod bereits kennt.
Nelson geht bis an die Spitze der Landzunge und schaut in die benachbarte Bucht. Menschenleer.
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