Gezeitengrab (German Edition)
Knochens anhand der C14-Menge, die noch darin enthalten ist, bestimmen kann. Außerdem weiß er, dass sich die Exaktheit dieser Datierungsmethode auf plus/minus hundert Jahre beläuft. Jemandem wie Ruth mag das nicht viel vorkommen, aber wenn man entscheiden muss, ob man es mit einem aktuellen Mordfall zu tun hat, hilft einem das kaum weiter.
«Sonst noch was?», fragt er und richtet sich wieder auf.
«Es handelt sich allem Anschein nach um ausgewachsene Männer von breitem Körperbau …» Ruth hält kurz inne. «Und sie sind gefesselt, Rücken an Rücken. Einer weist vermutlich eine Schussverletzung am Brustwirbel auf, einem anderen wurde, wie es aussieht, in den Hinterkopf geschossen.»
«Also ganz natürliche Todesursachen», lässt sich Clough von hinten vernehmen.
Trace kichert, aber Nelson wirft seinem Sergeant einen wütenden Blick zu. Über Mord macht man keine Witze, egal, ob er nun zwanzig, siebzig oder zweitausend Jahre zurückliegt.
«Was habt ihr jetzt vor?»
«Wir werden sämtliche Knochen freilegen und sie noch am Fundort abzeichnen und fotografieren. Anschließend graben wir ein Skelett nach dem anderen aus. Das sollte alles am selben Tag geschehen.»
«Mit einem Baby am Hals kannst du aber nicht graben.»
«Dann koordiniere ich eben.»
«Gib sie mir.»
«Wie bitte?»
«Gib mir die Kleine. Nur ein bisschen. Ich setze mich mit ihr ins Auto. Hier draußen ist es viel zu kalt.»
In den letzten paar Minuten ist der Wind tatsächlich stärker geworden. Sie hören, wie die Wellen sich am Strand brechen, Sandkörner fliegen ihnen um die Ohren. Kate zappelt unruhig.
«Wahrscheinlich hat sie Hunger», sagt Ruth.
«Dann fütterst du sie eben, und anschließend gibst du sie mir. Nur ein bisschen.»
«Mensch, Boss», sagt Clough. «Fangen Sie jetzt als Kindermädchen an?»
«Nur zehn Minuten», gibt Nelson zurück. «Dann sind Sie dran.»
Anfangs ist Ruth noch gereizt und verärgert, dann setzt eine fast glückselige Erleichterung ein. Als Nelson Kate vorsichtig aus dem Tragetuch nimmt, fühlt sich Ruth, als bekäme sie ihren alten Körper, ihr altes Ich zurück. Sie streckt sich, spürt den sandigen Wind im Gesicht, der ihr das Haar nach hinten weht, und merkt, dass sie lächelt.
Kate hat fast eine ganze Flasche Milch leer getrunken, jetzt fallen ihr die Augen zu. Nelson setzt sich mit ihr auf den Fahrersitz des Mercedes, während Clough ihn vom Beifahrersitz aus mit offenem Mund anstarrt.
«Sie wird sicher bald einschlafen», sagt Ruth.
«Falls nicht, singt Cloughie ihr was vor», meint Nelson.
Kates Kopf lehnt an Nelsons blauer Wachsjacke. Das feine dunkle Haar mit dem einen Wirbel, der nie in dieselbe Richtung weist wie der Rest, lässt sie plötzlich unfassbar zart wirken.
«Ich gehe dann mal zur Ausgrabungsstelle zurück», sagt Ruth, rührt sich aber nicht vom Fleck.
«Von uns aus lass dir ruhig Zeit», sagt Nelson, ohne einen Blick von Kate zu wenden.
Ruth legt den Weg zum Strand hinunter fast im Laufschritt zurück. Sie kann es kaum erwarten, dort anzukommen und im Graben zu arbeiten. Natürlich will sie ihre Autorität wieder geltend machen, darauf achten, dass die «Skelett-Spickzettel» ordentlich ausgefüllt werden, dass die Knochen nicht durcheinandergeraten, dass alles sorgfältig verpackt und beschriftet wird. Aber vor allem will sie einfach dabei sein. Es ist jetzt mehr als ein halbes Jahr her, seit sie zuletzt an einer archäologischen Ausgrabung beteiligt war. Ihr ist klar, dass Trace glaubt, sie benutze Kate als Ausrede, um nicht mit anpacken zu müssen, sondern nur zu «koordinieren». Ruth ist bei dieser Unternehmung die Fachfrau, sie hätte das Recht, sich einfach zurückzulehnen und die Arbeit zu delegieren, doch Trace wird nie begreifen, wie sehr sie sich danach sehnt zu graben, in der schlichten körperlichen Anstrengung einfach alles zu vergessen. Ruth würde das natürlich niemals zugeben, doch als sie endlich vor den Toten steht, die Rücken an Rücken in ihrem sandigen Grab liegen, vergisst sie beinahe, dass sie überhaupt ein Kind hat.
Der Graben ist noch sehr schmal, Ruth kann sich nur mit Mühe hineinzwängen. Idealerweise hätte sie gern mehr Zeit, sich genauer auf den Kontext zu konzentrieren, aber sie weiß, dass die Flut bereits näher kommt. Ihren Höhepunkt erreicht sie um sechs Uhr, und nachdem das Geröll nun entfernt ist, wird das Wasser auch bis in die Felsspalte vordringen. Höchste Zeit, die Skelette zu bergen. Ruth macht zunächst Fotos und
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