Gezeitengrab (German Edition)
hatte. Aber die Vorstellung, an einem Sommerabend draußen zu sein, im Gras zu sitzen und über die Dinge des Lebens zu reden, war einfach zu verlockend. Und so hatte Tatjana den Jeep bis an den Rand des Wäldchens gesteuert, und die beiden jungen Frauen hatten sich tatsächlich ins Gras gesetzt, ihren Wein direkt aus der Flasche getrunken und sich über Archäologie unterhalten, über Erik, Karriereaussichten, Männer und den Zustand der Welt im Allgemeinen. Ruth weiß noch, dass sie gerade anfing, angenehm müde zu werden und sich zum ersten Mal in jenem Sommer etwas zu entspannen, als Tatjana sagte: «Würdest du mir einen Gefallen tun, Ruth?»
Niemals wird Ruth vergessen, wie Tatjanas Gesicht sich in diesem Moment veränderte, wie es zu leuchten begann. Wie ungeheuer schön sie plötzlich aussah. Und wie ungeheuer furchterregend.
«Klar», hatte Ruth ängstlich geantwortet. «Was denn?»
«Du musst mir helfen, meinen Sohn zu finden.»
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6
Der Gerichtsmediziner, ein grässlich gut gelaunter Mann namens Chris Stephenson, vermutet, dass die Leichen nicht länger als hundert Jahre im Boden lagen. Ruth sagt nichts dazu. Sie wird die Knochen selbst noch eingehend untersuchen, sie vermessen und analysieren, nach Anzeichen von Krankheiten oder Verletzungen absuchen. Sie wird Proben entnehmen und sie zur C14-Datierung und zur DNA-Analyse schicken und an den Knochen und Zähnen Isotopenuntersuchungen vornehmen. Trotz all dieser technologischen Maßnahmen hält sie es aber für unwahrscheinlich, dass die Toten identifiziert werden können. Wenn sie schon so lange in der Erde liegen, warum sollte ausgerechnet jetzt jemand nach ihnen suchen?
Stephenson ist wie sie der Ansicht, dass es sich um männliche Leichen zwischen einundzwanzig und fünfzig Jahren handeln muss – keinerlei Hinweise auf Arthritis oder andere typische Alterserkrankungen, alle bleibenden Zähne vollständig durchgebrochen – und dass der Tod durch Erschießen erfolgt ist. Vier der Leichen weisen Eintritts- und Austrittsverletzungen auf, was nahelegt, dass ihnen von hinten in den Nacken geschossen wurde – «so hinrichtungsmäßig», wie Chris Stephenson fröhlich erläutert. Die Kugel, die im Grab gefunden wurde, ist ein Kaliber .455, typisch für Webley-Revolver, wie sie von den britischen Streitkräften sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg als Ordonnanzwaffen eingesetzt wurden.
«Heißt das, wir haben es hier mit einer Tat aus einem der beiden Kriege zu tun?», fragt Nelson, als sie gemeinsam den Obduktionsraum samt seinem Formaldehydgeruch verlassen.
«Kann schon sein», sagt Ruth. «Zeitlich käme es hin, aber … sechs Tote? Wie kann man denn sechs Soldaten erschießen und unter Felsen am Strand verscharren, ohne dass jemand davon erfährt? Über so was müsste es doch eigentlich Aufzeichnungen geben.»
«Vielleicht waren es ja keine Soldaten.»
«Sie sind aber im militärtauglichen Alter.»
«Na, das müssen wir wohl herausfinden.» Nelson geht über den Parkplatz auf seinen Mercedes zu, der neben Ruths kleinem Renault steht. «Ich setze Judy Johnson drauf an. Sie soll mal mit den Anwohnern reden. Die sehen mir nämlich alle aus, als hätten sie den Krieg schon erlebt. Und zwar den ersten.»
«Mit Jack Hastings solltest du auch reden», sagt Ruth. «Er meinte, es gibt kaum etwas im Dorf, was er nicht weiß.»
Zu ihrer Überraschung sagt Nelson: «Gute Idee. Komm doch mit. Du kennst ihn doch schon, oder? Es sei denn, du musst zur Tagesmutter.»
«Ich muss Kate erst um fünf wieder abholen», erklärt Ruth gemessen.
Erst als sie schon im Auto sitzt und die Vororte von Norwich draußen vorbeifliegen, wird ihr klar, dass sie in die Falle getappt ist.
Broughton Sea’s End ist ein kleines Dorf, das mit jedem Jahr kleiner wird. Von den Häusern auf der küstenzugewandten Seite der Straße sind nur noch Sea’s End House, das Pub und zwei Stationshäuschen der Küstenwache übrig. An einigen Stellen geht es schon wenige Meter neben der Fahrbahn steil in die Tiefe; nur ein wirkungsloser Stacheldrahtzaun trennt die Autofahrer vom Meer am Fuß der Felsen. Weiter draußen ragt, von der Brandung umtost, der Leuchtturm wie ein standhafter Fixpunkt empor, doch Ruth hat im Internet gelesen, dass er schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr in Betrieb ist. Ein-, zweimal schäumt die Gischt bis über den Felsrand hinauf und spritzt den Wagen nass. Fluchend schaltet Nelson die Scheibenwischer ein.
«Das ganze
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