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Gezeitengrab (German Edition)

Gezeitengrab (German Edition)

Titel: Gezeitengrab (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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als sie und hatten Erfahrung mit Katastrophenschauplätzen –, unsicher, einsam und ganz allgemein sehr unbehaglich. Doch den Moment, als sie die Massengräber von Srebrenica zum ersten Mal sah, den wird sie nie vergessen. So viele Tote, entstellt und grinsend, Arme und Beine verdreht ineinander verschlungen. Die Leichen, die zuoberst lagen, verwesten rasch in der heißen Sonne, doch weiter unten, unterhalb des Grundwasserspiegels, fanden sie Männer, Frauen und Kinder, die erstaunlich gut erhalten waren. Hitze und Gestank waren kaum zu ertragen. Sie verbrachten Tage in diesen Gruben des Grauens, legten eine Leiche nach der anderen frei, benutzten Kellen, Löffel und manchmal sogar Essstäbchen, um auch noch das letzte, kleinste Knochenfragment aufzulesen. «Wenn ihr einen Zahn oder auch nur ein Zehenknöchelchen verliert», mahnte einer der Anthropologen immer wieder, «dann macht ihr euch an diesem Verbrechen mitschuldig.»
    Natürlich gab es auch Konflikte. Die Behörden wollten die Gräber so schnell wie möglich exhumiert sehen, doch den Archäologen ging es darum, so viele Opfer wie möglich zu identifizieren. «Die Namen unserer Toten zu kennen», dozierte Erik, «ist ein menschliches Grundrecht. Deshalb haben die Ägypter ihre Pyramiden und die Viktorianer ihre Mausoleen gebaut und selbst die frühesten Menschen ihre Ahnen schon mit Waffen und Tongefäßen an heiligen Stätten beigesetzt.» Doch das UN-Kriegsverbrechertribunal wollte von Ägyptern und Viktorianern nichts hören, es wollte einfach nur alle nötigen Beweise zu Protokoll nehmen und die Schuldigen dann zur Rechenschaft ziehen. «Aber wer sind die Schuldigen?», ereiferte sich Erik abends im Ballsaal, während der Schein der Lampen auf seinem langen silbrig blonden Haar spielte. «Im Krieg schreibt doch immer nur der Sieger Geschichte.»
    Tatjana gehörte ursprünglich zu den Dolmetschern, doch schon bald stellte sich heraus, dass sie an einer amerikanischen Universität Archäologie studiert hatte, und so kam sie als Unterstützung zum Team der Forensiker. Sie war Ruth auf Anhieb sympathisch. Tatjana war zurückhaltend, dabei aber souverän. Sie scheute sich nicht, ihre Meinung klar zu äußern, und allein dafür bewunderte Ruth sie. Außerdem war sie attraktiv, trug ihr glattes dunkles Haar in einer Ponyfrisur und hatte große braune Augen. Ruth und sie verbrachten immer mehr Zeit miteinander, arbeiteten tagsüber Seite an Seite in den Gräbern und zogen sich nachts mit ihren Schlafsäcken in eine ruhigere Ecke des Ballsaals zurück, in sicherer Entfernung zu den Amerikanern, die ständig auf ihren Gitarren klimperten oder Flaschendrehen spielten.
    Trotz alledem wusste Ruth nicht allzu viel über Tatjana. Sie stammte aus Trebinje, einer Stadt an der adriatischen Küste. Es ging das Gerücht, ihr Mann sei während der Belagerung von Mostar ums Leben gekommen, aber es hatte ja praktisch jeder Bosnier Angehörige verloren. Irgendwann hörte man auf, danach zu fragen, und ging ganz selbstverständlich von einer persönlichen Tragödie aus. Manchmal, in untätigen Momenten, lag tatsächlich ein Ausdruck unerträglicher Trauer auf Tatjanas Gesicht, doch sie gab sich so reserviert, dass ihr nie jemand zu nahe kam. Ruth störte sich nicht daran. Sie war selbst eher verschlossen und mochte es gar nicht, wenn man ihr im Namen der Freundschaft bohrende Fragen stellte.
    Entsprechend überrascht und erfreut war sie, als Tatjana ihr eines Abends vorschlug, ein Picknick zu machen. Sie weiß noch, wie sie lachen musste. Das Wort «Picknick» klang nach Gurkensandwichs und grünen Wiesen, nicht nach diesem Horror-Land, wo man auf den lieblichen Auen in der Regel keine karierten Picknickdecken und süßen Törtchen fand, sondern menschliche Überreste. Doch Tatjana hatte sich von einem der Milizen einen Jeep geborgt – sie konnte sämtliche Soldaten um den Finger wickeln – und eine Flasche Wein organisiert. Was gab es Schöneres? Am Stadtrand lag ein Pinienhain. Ruth war noch nie dort gewesen, denn das Wäldchen befand sich dicht an der serbischen Grenze, und in den Bergen waren Räuber unterwegs, ganz zu schweigen von pittoreskeren Gefahren in Gestalt von Wölfen und Bären.
    «Uns passiert schon nichts», sagte Tatjana. «Wo bleibt dein Sinn fürs Abenteuer?»
    Ja, wo bloß? Im Grunde hatte Ruth das Gefühl, ihrem Bedürfnis nach Abenteuer schon dadurch mehr als Genüge getan zu haben, dass sie sich überhaupt freiwillig für den Bosnien-Einsatz gemeldet

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