Gezeitengrab (German Edition)
Salz ist Gift für die Karosserie.»
«Das wäre ehrlich gesagt noch meine geringste Sorge», bemerkt Ruth.
«Ach, die Straße ist schon sicher», sagt Nelson leichthin. «Sie ist ja jetzt schon etliche Jahre da.»
Aber das galt auch für die Häuser der Küstenwache, denkt Ruth. Und für den Martello-Turm und die Rettungsbootrampe. Das Meer scheint kurz davor, den Kampf zu gewinnen.
Sie halten auf dem Parkplatz, gleich neben dem Warnschild, und gehen dann ein Stück die Küstenstraße entlang ins Dorf. Es ist winzig, nur eine einzige Straße mit ein paar Häusern, einem Gemischtwarenladen mit integriertem Postschalter und einer Kirche im Hintergrund – dem Turm nach zu urteilen normannischen Ursprungs. Keine Menschenseele ist zu sehen. Der Wind peitscht vom Meer heran, über ihren Köpfen kreischen lauthals die Möwen.
«Lieber Himmel», sagt Nelson, «wer ist denn so blöd, hier zu wohnen?»
Doch Ruth gefällt das Dorf. Sie weiß nicht recht, warum – schließlich ist sie selbst in Süd-London aufgewachsen –, aber sie hat einfach eine Schwäche für einsame Küstenlandschaften. Sie liebt ihr Salzmoor mit seinem endlosen, kilometerlangen Sandstrand und dem eintönigen Grasland. Und sie mag auch Broughton Sea’s End. Sie mag die so abweisend wirkenden Häuser, den Laden, der Fischernetze und selbstgekochte Marmelade verkauft, und die vom Wind plattgedrückten Büsche in den Vorgärten. Sie gehen auf der anderen Seite der Hauptstraße zurück, überqueren wieder die Küstenstraße und machen sich auf den Weg zu Sea’s End House. Ein einsamer Spaziergänger kämpft sich gerade mit seinem Hund den Steilpfad hinauf. Irgendwas an ihm, vielleicht auch am Hund, kommt Ruth bekannt vor.
«Ich glaube, das ist er», sagt sie zu Nelson, «Jack Hastings.»
Tatsächlich biegen Mann und Hund kurz darauf in Richtung Haus ab. Nelson läuft ihnen nach und holt sie ein.
«Mr. Hastings?»
Jack Hastings dreht sich erstaunt um. Es ist, als griffe der Wind nach Nelsons Worten und wehte sie einfach davon. Hastings legt eine Hand ans Ohr.
«DCI Harry Nelson», ruft Nelson lauter. «Von der Polizei Norfolk. Kann ich kurz mit Ihnen reden?»
Jetzt erst bemerkt Hastings Ruth im Hintergrund. «Sie sind doch Ruth, nicht wahr? Die Archäologin?»
Wahrscheinlich braucht man als Politiker ein gutes Namensgedächtnis, aber Ruth ist dennoch beeindruckt.
«Doktor Galloway unterstützt uns bei unseren Ermittlungen.» Nelson verfällt wieder in sein Polizistenkauderwelsch.
«Dann kommen Sie doch bitte herein», sagt Hastings zuvorkommend.
Ruth registriert mit Interesse, dass Hastings sie diesmal in einen prächtigen Wohnraum führt, dessen mehrere Hektar Parkett von vereinzelten ausladenden Polstermöbeln bevölkert werden. Für Archäologen reicht anscheinend die Küche, aber die Polizei wird als offizieller Besuch behandelt.
«Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?» Hastings streift seine Jacke ab. «Tee? Kaffee? Oder vielleicht etwas Stärkeres gegen die Kälte?»
«Danke, ich muss noch fahren», sagt Nelson. «Aber Kaffee wäre toll.»
Ruth würde schon gern etwas «Stärkeres» trinken, vermutet aber, dass Nelson das nicht gutheißen würde. Schließlich muss sie ja später nicht nur selbst noch fahren, sondern auch Gefahrengut in Gestalt eines Babys transportieren. Also sagt sie: «Ja, ein Kaffee wäre sehr schön.»
Fast hätte sie damit gerechnet, dass Hastings an einer Klingelschnur zieht und ein paar dezent livrierte Dienstboten herbeizitiert, doch er geht selber los, den Cockerspaniel dicht auf den Fersen. Ruth und Nelson bleiben allein zurück und betrachten den gewaltigen Kamin, der aussieht, als wäre er aus Ausschussware von Stonehenge erbaut. Die großen Schiebefenster klappern im Wind, zwei Fenstertüren führen auf eine steinerne Terrasse hinaus. Gleich dahinter erstreckt sich eisengrau, mit weißen Tupfern gespickt, das Meer. Leider brennt kein Feuer in dem riesigen eisernen Rost, und Ruth fröstelt unwillkürlich.
Nelson bemerkt es. «Vornehme Leute frieren nicht», sagt er.
«Tja, ich bin halt ein Arbeiterkind», sagt Ruth.
«Nein, du bist mittleres Bürgertum», erwidert Nelson ganz ernsthaft. «Das Arbeiterkind bin ich.»
«Und woran machst du das fest?»
«Du hast studiert.»
«Dadurch gehört man aber noch nicht automatisch zum Bürgertum.»
«Für mich schon. Meine Tochter beispielsweise ist jetzt auf dem besten Weg dahin.»
«Ist sie schon an der Uni? Was studiert sie
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