Gezeitengrab (German Edition)
denn?»
«Meeresbiologie. In Plymouth.»
Ruth weiß nicht so recht, was sie darauf sagen soll, doch glücklicherweise geht in dem Moment die Tür auf, und Hastings kommt herein, ein Tablett in der Hand. Zu Ruths Überraschung folgt ihm eine ältere Dame mit einer Kaffeekanne.
«Darf ich Ihnen meine Mutter vorstellen, Irene Hastings?» Hastings platziert das Tablett auf einem auffallend hässlichen Messingteewagen. «Die Tee- und Kaffeezubereitung in unserem Haus liegt fest in ihrer Hand.»
Und Irene macht es sich tatsächlich zum großen persönlichen Anliegen, alle mit genau so viel Kaffee, Milch, Zucker oder Süßstoff zu versorgen, wie sie benötigen. Am Ende ist Ruth ganz erschöpft. Eigentlich hat sie erwartet, dass Irene sich wieder zurückzieht, sobald alle ihren Kaffee haben, doch stattdessen nimmt die alte Dame in einem Sessel am Fenster Platz und greift nach dem Handarbeitskorb, der daneben steht.
«Mutter strickt für ihr Leben gern», ist Hastings’ einziger Kommentar dazu.
«Mr. Hastings», sagt Nelson, «Sie sind ja, soweit ich weiß, schon darüber informiert, was wir am Fuß der Felsen hier entdeckt haben?»
«Vier Skelette, ja.» Hastings lehnt sich aufmerksam vor.
«Um genau zu sein, sind es sechs Skelette.»
«Sechs?»
«Das ist natürlich alles streng vertraulich», fährt Nelson fort, eine Bemerkung, die Hastings sichtlich Freude bereitet. «Die Archäologen vermuten, dass die Leichen vor etwa fünfzig bis siebzig Jahren dort begraben wurden. Ihre Familie lebt ja schon seit vielen Jahren hier in der Gegend. Da hatte ich mich gefragt, ob Sie sich vielleicht an irgendwelche entsprechenden Vorfälle im Krieg erinnern. Oder an Erzählungen», setzt er hastig hinzu. «Sie selbst sind natürlich viel zu jung.»
Hastings lächelt. «Ich bin fünfundsechzig. Jahrgang 1944.»
«Haben Sie denn je etwas von seltsamen Vorfällen gehört? Wurde irgendwer vermisst? Vielleicht im Krieg?»
Hastings wirft einen raschen Blick zu seiner Mutter hinüber, die am Fenster sitzt und strickt. Auf der Fensterbank stehen etliche Pflanzen aufgereiht, einige in Töpfen, andere auch in ausgefalleneren Behältnissen: Suppenschüsseln, Hüte, sogar eine Reitkappe.
«Ich war ja bei Kriegsende erst ein Jahr alt, Detective Inspector», sagt Hastings. «Mein Vater war Captain bei der örtlichen Einheit der Home Guard.»
Sofort steht Ruth eine Szene aus der Comedyserie Dad’s Army vor Augen, in der Captain Mainwaring und der andere Typ, der Metzger, «Keine Panik!» brüllen. Fast muss sie grinsen, doch dann lauscht sie wieder dem Wind, der durch die Fensterritzen pfeift, und denkt sich: Im Krieg hätte ich hier wirklich nicht gern gelebt.
«Ist Ihr Vater denn noch …?», fragt Nelson taktvoll.
«Nein. Er ist 1989 verstorben.»
«Und ist sonst noch jemand am Leben, der sich an diese Zeit erinnern könnte? Ihre Mutter vielleicht?» Nelson schaut zu der selig strickenden Gestalt hinüber.
«Ma!» Hastings spricht lauter. «Der Herr von der Polizei fragt nach dem Krieg.»
«Sie müssen da ja noch ein ganz junges Ding gewesen sein», setzt Nelson galant hinzu.
Irene Hastings schenkt ihnen ein entzückendes Lächeln. Sie war früher sicher einmal sehr hübsch, denkt Ruth. «Ich war tatsächlich um einiges jünger als mein Mann», sagt sie. «Wir haben 1937 geheiratet, da war ich gerade mal zwanzig und Buster vierundvierzig. Mein erstes Kind, Tony, bekam ich mit einundzwanzig. Ein Jahr später kam Barbara. Jack war unser Nesthäkchen.»
«Was ist denn aus Ihrem älteren Sohn geworden?», fragt Nelson. Er fragt sich, wie es kommt, dass offenbar Nesthäkchen Jack das Haus geerbt hat und nicht sein älterer Bruder.
«Er ist schon mit Mitte dreißig gestorben. An Krebs.»
«Das tut mir leid», sagt Nelson.
«Der Inspector interessiert sich für die Home Guard», wirft Jack rasch ein, wie um gleich wieder vom verstorbenen Tony abzulenken. «Ist irgendeiner von denen noch am Leben?»
«Die Mitglieder der Home Guard waren fast alle älter als mein Mann, und er war sechsundvierzig, als der Krieg ausbrach. Er hatte ja schon im Ersten Weltkrieg gekämpft.»
«Er hat sogar einen Orden bekommen», mischt Hastings sich erneut ein. «Das Military Cross.»
«Ja, Jack, er hat einen Orden bekommen», sagt Irene mit strenger Stimme, «aber trotzdem hat er nie vergessen, wie grauenvoll das alles war.»
«Das heißt, von der Home-Guard-Einheit lebt keiner mehr?», hakt Nelson nach.
«Nun, es waren schon auch ein paar
Weitere Kostenlose Bücher