Gezeitengrab (German Edition)
Jungspunde dabei. Man kam nur in die Home Guard, wenn man entweder zu jung oder zu alt zum Kämpfen war. Von Hugh und Danny weiß ich es nicht, aber Archie lebt auf jeden Fall noch. Er schickt uns doch immer eine Weihnachtskarte, nicht, Jack? Ich glaube, er war um die sechzehn, als der Krieg ausbrach. Später hat er sich dann noch freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet.»
«Archie?» Nelson zückt sein Notizbuch. Jeder Archie ist ihm von vornherein sympathisch; sein Vater hieß auch so.
«Archie Whitcliffe.»
«Und die anderen beiden, Hugh und Danny?»
«Ich glaube, Hugh wohnt noch hier in der Nähe. Ich habe ihn vor ein paar Jahren zuletzt gesehen, kurz nach dem Tod seiner Frau. Er müsste eigentlich noch leben. Ich lese immer die Todesanzeigen in unserer Lokalzeitung.»
Erbauliche Lektüre, denkt Nelson. Aber vielleicht sind Todesanzeigen für Leute in Irenes Alter ja eine Möglichkeit, sich über seine Freunde auf dem Laufenden zu halten – quasi Facebook für über Achtzigjährige.
«Wissen Sie denn noch, wie Hugh mit Nachnamen heißt?»
Irene schaut betrübt drein. «Nein, leider, leider nicht.»
«Kein Problem. Was ist mit Danny?»
«Von dem weiß ich leider überhaupt nichts mehr.»
Während Nelson diese neuen Informationen noch verarbeitet, geht die Tür wieder auf, und eine junge Frau kommt herein, diesmal mit beiden Cockern.
«Ist Flos Pfote wieder heil, Dad?», fragt sie, unterbricht sich dann aber und mustert erstaunt die Gäste.
Hastings strahlt über das ganze Gesicht. «Meine Tochter Clara», sagt er.
Das ist sie also, die legendäre Clara. Zum Glück weiß Ruth, dass sie gerade mit dem Studium fertig ist und jetzt die Welt verändern möchte, andernfalls hätte sie sie für einen Teenager gehalten. Clara Hastings ist groß – deutlich größer als ihr Vater –, schlank und trägt ihr dichtes blondes Haar in einem schulterlangen Bob. Sie ist umwerfend hübsch.
Hastings stellt Ruth und Nelson vor. Clara gibt Nelson höflich die Hand, doch als sie das Wort «Archäologin» hört, hellt sich ihre Miene merklich auf.
«Das hört sich ja spannend an. So was würde ich zu gerne auch machen.»
«Mir gefällt’s», sagt Ruth vorsichtig.
«Ich bin gerade ohne Arbeit», gesteht Clara. «Dad ist schon ganz verzweifelt. Ich habe einen Abschluss in Jura gemacht, aber eigentlich will ich nicht Anwältin werden. Damit sorgt man doch nur dafür, dass die Reichen noch reicher werden. Ich möchte etwas Sinnvolles mit meinem Leben anfangen.»
«Wie wär’s dann mit der Polizei?», fragt Nelson bierernst.
Die junge Frau verzieht das Gesicht. «Na ja …»
«Clara ist eine echte Linke», wirft ihr Vater liebevoll ein. «Sie ist grundsätzlich gegen alle Autoritäten.»
Da würde sie sich ja bestens mit Cathbad verstehen, denkt Ruth. Laut sagt sie: «Sind Sie denn auf Jobsuche? Vielleicht haben wir ja bei einer unserer Ausgrabungen im Frühjahr noch Bedarf an Aushilfskräften.»
«Oh, das wäre toll!», sagt Clara. «In der Zwischenzeit mache ich so ziemlich alles: Hunde ausführen, Gartenarbeit, Babysitten.»
«Babysitten …», wiederholt Ruth versonnen.
Als sie Sea’s End House verlassen, fängt es an zu regnen. Innerhalb kürzester Zeit sind sie nass bis auf die Haut, und vom Meer her schlägt ihnen feuchter Wind ins Gesicht. Am Parkplatz angekommen, fällt ihnen auf, dass im Pub bereits Licht brennt.
«Hast du schon zu Mittag gegessen?», fragt Nelson. Er hat keine Jacke an, das Hemd klebt ihm am Rücken, aber er friert offensichtlich nicht. Naturgewalten scheinen ihm grundsätzlich nichts anhaben zu können.
«Ich habe keinen Hunger», sagt Ruth, doch sie zittert. Der Wind hat ihr die Kapuze vom Kopf geweht, der Regen läuft ihr aus den nassen Haaren den Nacken hinunter.
«Na, komm schon.» Nelson wittert ihre Schwäche. «Nur ein Sandwich.»
«Na gut», sagt Ruth.
Die Falle schnappt zu.
Das Sea’s End ist ein kleiner, quadratischer Rauputzbau. An einem Sommerabend ist es sicher der perfekte Ort für ein Glas Weißwein oder Pimm’s. Obwohl die Terrasse längst dem Meer zum Opfer gefallen ist, stehen Tische vor der Tür, und der Blick über die Bucht ist spektakulär. An einem regnerischen Märznachmittag wie diesem macht das Ganze allerdings einen tristen, reizlosen Eindruck. Ruth kommt es so vor, als ob der Wirt sich nicht allzu viel Mühe gibt, mit den modernen Standards Schritt zu halten, nachdem das Pub ja das einzige Lokal im Dorf ist. Die Wände sind mit Kiefernholz
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