Gezeitengrab (German Edition)
Ein paar Jahre lang bekam Ruth noch Weihnachtskarten. Tatjana lebte mit ihrem Mann – Rick? Rich? Rock? – in Cape Cod, wo sie gelegentlich als Archäologin jobbte und an einem Buch schrieb. Rick-Rich-Rock war Arzt und hatte sich auf Geriatrie spezialisiert. «Da mangelt es in Cape Cod nicht an Patienten», hatte Tatjana mit ihrem gewohnten trockenen Humor geschrieben. Das war jetzt fast zehn Jahre her.
«Hallo, Ruth.» Sie klang irritierend unverändert. «Ich habe mich an der Uni nach deiner Privatnummer erkundigt. Ich hoffe, das macht dir nichts aus?»
«Natürlich nicht.» Eigentlich ist das Sekretariat nicht befugt, Privatnummern herauszugeben, aber in einer Zeit, in der Dozenten ihren Studenten SMS schreiben und über Facebook mit ihnen kommunizieren – nicht, dass Ruth auch nur eins von beidem täte –, ist Privatsphäre sowieso längst ein Fremdwort.
«Dann unterrichtest du also noch?» Tatjana hatte ihren Akzent fast völlig verloren und sich stattdessen einen leichten Ostküsten-Singsang zugelegt, aber sie modulierte ihre Sätze immer noch fremdländisch, sprach die Wortendungen hart und stark betont aus.
«Ja. Ich bin Dozentin für forensische Archäologie und unterrichte fast nur noch Doktoranden.»
«Hast du dein Buch jemals geschrieben?»
«Nein. Du?»
«Nein.» Tatjanas Lachen, ein plötzliches, abgehacktes Bellen, führte Ruth lebhafter in die Vergangenheit zurück als alles andere. Der Ballsaal, die Petroleumlampen, Erik, der Vampirgeschichten erzählte, Hank, der «Smoke on the Water» auf der Gitarre spielte.
«Und Erik?», fragte Tatjana. «Siehst du ihn noch?»
«Erik ist tot», sagte Ruth. «Das ist eine lange Geschichte.»
«Erik tot? Mein Gott!»
«Ja.»
«Und du, Ruth? Was gibt es bei dir Neues? Bist du verheiratet? Hast du Kinder?»
Ruth holte tief Luft, den Blick auf das flackernde grüne Lämpchen des Babyphons gerichtet. «Verheiratet bin ich nicht, aber ich habe ein Kind. Ein Baby.»
Sie erinnert sich genau, dass am anderen Ende der Leitung kurz Stille herrschte. Dann sagte Tatjana: «Ein Baby, na, das sind doch mal Neuigkeiten! Herzlichen Glückwunsch, Ruth. Junge oder Mädchen?»
«Ein Mädchen. Kate.»
«Kate.»
Wieder blieb es still, und Ruth konnte förmlich hören, wie die Jahre an ihnen vorbeisausten, mit einem Rascheln, als stapfe man durch Herbstlaub.
«Ich komme nach England», sagte Tatjana schließlich. «Ich soll ein paar Vorträge an der University of East Anglia halten. Und da dachte ich mir, ich könnte doch vielleicht bei dir wohnen. Für ein oder zwei Wochen?»
Ruth hatte mehrere Gedanken gleichzeitig: Ihr Häuschen ist nicht gerade nah an der University of East Anglia, zwei Wochen sind ganz schön lang, sie muss das Gästezimmer in Ordnung bringen. Darüber dachte sie so lange nach, dass Tatjana meinte: «Falls das aber irgendwie zu schwierig ist …»
«Nein», hat Ruth erwidert, «es ist gar nicht schwierig. Ich freue mich sehr darauf, dich wiederzusehen.»
Aber freue ich mich denn wirklich?, denkt sie jetzt, während sie nach der Schlüsselkarte für ihr Büro kramt. Ein Wiedersehen mit Tatjana wird einen ganzen Schwall von Erinnerungen auslösen, beileibe nicht nur angenehme. Ruth hat noch Jahre nach der Zeit in Bosnien Albträume gehabt. Knochen, die in der Sonne bleichten, endlose Hotelflure, eine identische Tür neben der anderen, Freitreppen, die ins Leere führten, ein flackerndes Lagerfeuer, Tatjanas Gesicht in der Dunkelheit.
Das letzte Mal hat Ruth Tatjana bei einer sehr schmerzlichen Gelegenheit gesehen. Bis heute denkt sie manchmal darüber nach, fragt sich, ob sie vielleicht irgendetwas anders gesagt, anders gemacht haben könnte, ob sie mit einer winzigen Änderung die Ereignisse nicht in eine andere Richtung hätte lenken können. Auch vierzehn Jahre später ist sie sich noch nicht sicher, ob sie diese Situation noch einmal durchleben will. Sie fühlt sich nicht widerstandsfähig genug: zu wenig Schlaf, zu viele Auseinandersetzungen mit Nelson. Aber Tatjana ist ihre Freundin, und gerade im letzten Jahr hat Ruth eine Menge über Freundschaft gelernt. Tatjana will sie anscheinend unbedingt sehen, wenn sie schon den Aufwand betreibt, wieder Kontakt aufzunehmen. Ruth darf sie nicht abweisen. Sie darf Tatjana nicht noch einmal im Stich lassen.
Während sie noch in ihrem Handtaschen-Organizer kramt – das Ding hat einfach zu viele Fächer und Reißverschlüsse, sodass man letztlich gar nichts mehr findet –, stellt sie fest,
Weitere Kostenlose Bücher