Gezeitengrab (German Edition)

er ist wirklich verliebt in Trace.»
    Nelson knurrt. «Hör mir auf mit Verliebtsein. Sogar Judy heiratet. Die Mädels im Revier reden von nichts anderem mehr.»
    Ruth überlegt kurz, ob sie Nelson dafür tadeln soll, dass er seine Polizeikolleginnen als «Mädels» bezeichnet, aber diese Neuigkeit ist einfach viel zu spannend, um sich mit erzieherischen Maßnahmen aufzuhalten. Außerdem ist sie froh über den Themenwechsel. Bei Nelson ist wahrscheinlich sowieso Hopfen und Malz verloren.
    «Ach, wirklich? Sie ist ja schon sehr lange mit ihrem Freund zusammen, nicht?»
    «Seit der Schule.»
    «Mein Gott, das kann ich mir gar nicht vorstellen.» Ruth denkt an den Jungen zurück, mit dem sie mit sechzehn zusammen war: ein pickliger Jüngling namens Daniel Harris. Soweit sie weiß, ist er Klempner geworden. Wahrscheinlich ist er stinkreich. Sie hätte ihn vielleicht doch heiraten sollen.
    «Man hört nichts anderes mehr als Junggesellinnenabend und Hochzeitslisten. Sogar Whitcliffe …» Nelson bricht ab.
    «Was denn?»
    Einen Augenblick lang kaut er schweigend an seinem Sandwich. Ruth beißt lustlos in ihres. Es schmeckt nach aufgeweichtem Plastik.
    Nelson schiebt seinen Teller weg. «Weißt du noch, wie der Typ von der Home Guard hieß?», sagt er. «Der, der noch leben soll?»
    «Archie Irgendwas.»
    «Archie Whitcliffe. Ich glaube, das ist der Großvater meines Chefs. Er hat ihn mal erwähnt. So ein Lokalmatador. Hat an der Heimatfront gekämpft, das ganze Programm.»
    «Macht das die Sache für dich schwieriger?»
    «Möglich. Whitcliffe ist empfindlich, wenn es um seine Familie geht. Er ist in Norfolk geboren und aufgewachsen. Erklärt einiges, wenn du mich fragst. Und er will bestimmt nicht, dass ich seinen Opa, den Kriegshelden, zu hart anfasse.»
    «Aber du willst ihn doch auch gar nicht hart anfassen, oder?», fragt Ruth unschuldig. «Du willst ihm doch nur ein paar Fragen stellen.»
    «Whitcliffe meint, ich bin zu resolut.»
    «Wie kommt er bloß auf die Idee?»
    Jetzt hat es auch Nelson verstanden. «Keine Ahnung. Ich bin doch ein totaler Schmusekater.»
    Automatisch muss Ruth an Flint denken. Sie hat ihn heute noch nicht gesehen. Hoffentlich geht es ihm gut, und er wurde nicht versehentlich irgendwo eingesperrt. Seit Ruth im Jahr zuvor ihre andere Katze verloren hat, macht sie sich umso größere Sorgen um Flint.
    «Bist du fertig?», fragt sie. «Ich glaube, ich muss allmählich zurück an die Arbeit.»

    Auf der Rückfahrt durch den prasselnden Regen fragt Nelson: «Glaubst du, wir haben eine Chance, die Toten zu identifizieren?»
    «Vielleicht», antwortet Ruth. «Ich mache eine Isotopenanalyse.»
    «Was soll denn das nun wieder sein?»
    «Damit lassen sich die Chemikalien und Mineralien bestimmen, die in Zähnen und Knochen enthalten sind. Die einfache Formel lautet, dass die Zähne uns verraten, wo ein Mensch aufgewachsen ist, und die Knochen uns verraten, wo er zuletzt war.»
    «Wieso das denn?»
    «Weil Knochen immer weiter wachsen. Sie erneuern sich ständig, von innen nach außen. Zähne dokumentieren die Zeit, in der sie entstanden sind, aber in den Knochen kann man die Chemikalien und Mineralien nachweisen, die später aufgenommen wurden.»
    «Das ist doch gut, oder?»
    «Ja, schon …» Ruth zögert kurz. «Nur … wir können die Tests natürlich durchführen, aber ohne die entsprechenden Unterlagen für die Gegenprobe hilft uns das bei einer Identifizierung auch nicht weiter. Aber wenn wir schon mal wissen, wo die Männer ungefähr her sind, können wir dort vielleicht weitere Nachforschungen anstellen. Das Dumme ist, dass es schon so lange Zeit zurückliegt.»
    «Das Gedächtnis der Leute reicht weit zurück», sagt Nelson grimmig. «Wenn ich eins bei meiner Arbeit gelernt habe, dann das.»

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    7
    Nelson setzt Ruth vor dem Revier ab, und sie fährt direkt weiter zur Universität, wo sie um drei ein Seminar hat. Der naturwissenschaftliche Fachbereich wirkt wie ausgestorben. An so einem trüben Nachmittag sitzen die meisten Studenten am Schreibtisch oder in der Cafeteria. Ruth steigt die Treppe zu ihrem Büro hinauf und denkt dabei über Nelson und Kate und Tatjana nach und darüber, was Jack Hastings’ Mutter wohl mit der Bemerkung gemeint haben mag, ihr Mann habe nie vergessen, wie grauenvoll das alles war .
    Es war ein echter Schock für sie, Tatjanas Stimme zu hören. Nach der Zeit in Bosnien ist Tatjana in die USA gezogen und hat dort einen Amerikaner geheiratet.