Gezeitengrab (German Edition)
dass in ihrem Büro Licht brennt. Sie öffnet die Tür und sieht Cathbad, der unter dem Indiana-Jones-Poster an ihrem Schreibtisch sitzt und Alice im Wunderland liest.
Insgesamt zwar nur mäßig überrascht – immerhin hat Cathbad es zu seiner Spezialität gemacht, plötzlich da aufzutauchen, wo man ihn am wenigsten erwartet –, ist Ruth doch erstaunt, als sie ihn dort sitzen sieht, still und gelassen wie Buddha, im Laborkittel, das lange Haar zum Pferdeschwanz gebunden, einen Ausdruck milden Wohlwollens im Gesicht. Hin und wieder begegnet Ruth ihm zwar auf dem Campusgelände – Cathbad arbeitet als Labortechniker im Fachbereich Chemie –, doch meistens hält er sich von den Archäologen fern. Früher hat er selbst bei Erik Archäologie studiert, vielleicht ist das ja der Grund, warum er Phil, Ruths Chef, so ausdrücklich meidet. Tatsächlich könnte es kaum zwei unterschiedlichere Menschen geben als Erik und Phil.
«Lewis Carroll», sagt Cathbad versonnen. «Was für ein Visionär!»
«Ich dachte immer, er war pädophil.»
«Er war ein unglücklicher kleiner Mann, der sich gern mit kleinen Mädchen umgab. Was ist daran so falsch?»
«Frag mal Nelson.»
Cathbad lächelt. Zu aller, nicht zuletzt ihrer beider eigenen Überraschung kommen Cathbad und Nelson bestens miteinander aus. Zwei Mal schon haben sie gemeinsam große Gefahren überstanden, und Cathbad ist überzeugt, dass Nelson ihm bei einer dieser Gelegenheiten das Leben gerettet hat. Das, sagt er, sei etwas, was sie auf ewig aneinander binde. Nelson knurrt jedes Mal skeptisch, wenn er das hört, doch trotz seiner berühmt-berüchtigten Allergie gegen alles, was nur im Entferntesten spirituell oder esoterisch wirkt, schätzt er Cathbads Gesellschaft. Unter dem ganzen New-Age-Schnickschnack steckt nämlich ein hochintelligenter Mann. Manchmal denkt Nelson sogar, dass aus Cathbad ein guter Ermittler geworden wäre.
«Nelson sieht doch überall nur Monster. Wie geht’s dir, Ruthie?»
Ruth zuckt zusammen. Zum einen kommt es ihr vor, als wäre es Jahre her, dass jemand nach ihr gefragt hat und nicht nach Kate. Und dann: Ruthie? Erik war immer der Einzige, der sie Ruthie nannte.
«Gut. Irgendwie siehst du so anders aus. Warum nur?»
Cathbad greift sich leicht verlegen ans Kinn, und da wird es auch Ruth klar.
«Du hast deinen Bart abrasiert!»
Die letzten Jahre trug Cathbad einen pechschwarzen Bart, ein dramatischer Kontrast zu seinem langsam ergrauenden Kopfhaar. Ohne den Bart wirkt er jünger, offener und, wie Ruth erstaunt feststellt, sogar richtig attraktiv.
«Maddy hat mich dazu überredet.»
Maddy ist Cathbads halbwüchsige Tochter. Ruth wusste nicht, dass sie wieder Kontakt haben. «Gute Idee von ihr. Es sieht viel besser aus.»
Ruth stellt ihre Tasche auf dem Besucherstuhl ab und wartet darauf, dass Cathbad ihren Schreibtischstuhl wieder freigibt. Doch er sieht nur lächelnd zu ihr hoch, und seine Augen wirken in dem glattrasierten Gesicht noch dunkler als sonst.
«Was macht Hekate?»
«Kate!», faucht Ruth. Lieber Himmel, kann sich denn niemand ihren richtigen Namen merken?
«Ich dachte mir, es wird langsam Zeit für ihre Namensweihe.»
Cathbad hat sich selbst zu Kates Paten ernannt. Ruth hält große Stücke auf das Konzept der Patenschaft – was kann schon schlecht an Leuten sein, die Geschenke bringen? –, aber sie möchte Kate nicht taufen lassen, aufgrund der kleinen Hürde, dass sie nicht an Gott glaubt. Cathbad, der grundsätzlich keine Gelegenheit zum Feiern auslässt, hat daraufhin eine heidnische Namensweihe vorgeschlagen. An die heidnischen Götter glaubt Ruth zwar genauso wenig, aber immerhin kommt in Cathbads Plan keine Kirche vor. Zuletzt hat er von einem Picknick am Strand gesprochen.
«Ist es nicht noch ein bisschen kalt am Strand?», fragt sie deshalb jetzt.
«Wir könnten ein Feuer machen.» Cathbad macht für sein Leben gern Feuer. Er behauptet, sie seien Opfergaben an die Götter, doch Nelson hält ihn für einen verkappten Brandstifter.
«Aber eine Ziege wirst du nicht opfern, oder?»
Cathbad sieht sie gekränkt an. «Natürlich nicht. Es ist eine ganz schlichte Zeremonie. Wir stellen Kate den Göttern vor, weiter nichts.»
«Für mich klingt das immer noch sehr nach Ritual des Bösen .»
«Denk nicht an die Götter. Sieh es einfach nur als Fest, mit dem wir Kate auf dieser Welt willkommen heißen.»
«Ich glaube, damit kann ich leben.»
«Fein. Dann kümmere ich mich um alles. Was hältst du von
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