Gezeitengrab (German Edition)
Farbe oder eingemeißelt unter dem Dachfirst: «S. Austin & Söhne, Fischhändler», «T. Burgess, Metzger», «Ronald Caffrey, Kolonialwaren».
Der einzig verbliebene Laden liegt ganz am Ende der Häuserreihe. Ob er wohl deshalb überlebt hat, während S. Austin, T. Burgess und Ronald Caffrey allesamt die Schürze an den Nagel hängen mussten? Die Auslagen im Schaufenster wirken jedenfalls nicht gerade einladend: ein paar Krabbennetze und ein verstaubter Angeleimer, dazwischen eine Sammlung sichtlich uralter Zeitschriften: Knitting World, Horse and Hound, The Coarse Fisherman . Was wohl passieren würde, denkt sich Judy, wenn sie hier nach der neuesten Cosmopolitan oder, schlimmer noch, nach dem Guardian fragte?
Als sie eintritt, scheppert eine Türglocke, und ein Mann mit Brille kommt hinter einem Perlenvorhang hervor.
«Ja, bitte?», fragt er mit hochgezogenen Brauen. Der Laden setzt eindeutig nicht auf Laufkundschaft. Er ist eine merkwürdige Mischung aus Supermarkt, Zeitungskiosk und Postamt. In den Regalen stehen Dosentomaten neben Bindfaden, Tesafilm und leuchtend pinkfarbenen Muttertags-Karten, obwohl erst in drei Wochen Muttertag ist. Am Postschalter hängt ein großes, handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift: «Geschlossen». Ein weiteres Schild gibt die Gewichtsklassen von Postpaketen in Pfund und Unzen an. Offensichtlich hat das metrische System in Broughton Sea’s End noch nicht Einzug gehalten.
Judy zeigt ihren Dienstausweis, worauf die Brauen des Ladeninhabers fast in seinem rotblonden Haar verschwinden.
«Polizei?», fragt er mit schwacher Stimme.
«Nur ein paar Routinefragen.» Judy legt einen beruhigenden Ton in ihre Stimme. «Uns geht es um einen Vorfall vor fünfzig oder sechzig Jahren.»
«Daran werde ich mich ja wohl kaum persönlich erinnern», meint der Mann pikiert, obwohl Judy nicht findet, dass er besonders jung aussieht.
«Ich wollte ja auch nur wissen, ob es irgendwelche Anwohner gibt, die sich noch an die Zeit erinnern können», sagt sie besänftigend. «Leute, die älter sind als Sie. Ich meine, mit einem solchen Laden kennen Sie doch sicher das ganze Dorf.»
Die Schmeichelei ist nicht vergebens: Die Augenbrauen senken sich ein klein wenig.
«Wir geben uns zumindest Mühe. Wir sind eine wichtige Institution hier vor Ort. Sie müssen unbedingt den Antrag unterschreiben, um das Postamt zu retten.»
«Mache ich.»
«In ein paar Jahren sind Läden wie dieser hier Geschichte. Dann gibt es nur noch Supermarktketten.»
Kein Fehler, denkt Judy. Doch dann überlegt sie sich: Wenn ich mal alt bin und gern die neueste Ausgabe der Knitting World hätte, will ich doch auch nicht in den Bus steigen und ins nächste Dorf fahren müssen. Und hat Nelson nicht erzählt, dass Broughton langsam, aber sicher komplett im Meer versinkt?
«Das ist wirklich furchtbar», sagt sie. «Ich hasse Supermarktketten. Ich kaufe da nie.» Das stimmt sogar: Sie kauft alle ihre Lebensmittel online.
Der Mann stützt die Arme auf den Tresen; seine Augenbrauen sind wieder auf normaler Höhe, und er ist die Freundlichkeit selbst.
«Sie haben ja so recht. Supermärkte sind gut und schön, aber wo bleibt da der zwischenmenschliche Kontakt?» Er sieht sie anzüglich an.
«Sie liefern doch sicher oft Lebensmittel an ältere Anwohner.»
«Na ja, ich kann selbst nicht schwer heben. Der Rücken, wissen Sie. Aber ich habe immer ein nettes Wort für sie, wenn sie ihre Rente abholen kommen.»
«Und wo wir gerade von älteren Anwohnern reden …?»
«Ach ja.» Er richtet sich auf und schaut schon wieder misstrauischer drein. «Nun, da war Mr. Whitcliffe, ein wirklich feiner alter Herr. Aber er ist schon vor Jahren ins Heim gekommen.»
«Mr. Whitcliffe kenne ich.» Judy hat keine Lust, weiter ins Detail zu gehen.
«Sein Enkel ist auch bei der Polizei, glaube ich.»
«Er ist mein Chef. Mein oberster Chef.»
«Ach, wirklich?» Das beseitigt zumindest einen Teil des Misstrauens. Den Whitcliffes, die ja schließlich aus dem Dorf stammen, kann man offensichtlich trauen.
«Gibt es sonst noch jemanden in dem Alter?»
«Mr. Drummond ist vor zwei Jahren gestorben. Aber da wäre noch Mrs. West. Sie wohnt in der Cliff Road Nummer zwei. Eins von den neueren Häusern.»
«Danke schön.» Judy gibt ihm ihre Visitenkarte. «Würden Sie mich anrufen, falls Ihnen noch jemand einfällt?»
Der Mann nickt, dann schaut er mit zusammengekniffenen Augen auf die Karte.
«Johnson. Sind das die Johnsons aus
Weitere Kostenlose Bücher