Gezeitengrab (German Edition)
Cromer?»
«Nein», sagt Judy. «Ich bin nicht aus der Gegend hier.»
Sie geht zur Cliff Road. Dort stehen nur vier Häuser, moderne Versionen von Fischerhütten mit freiliegendem Mauerwerk und nachgemachten Schindelbrettern. Beim Haus mit der Nummer zwei öffnet niemand. Bei Nummer eins ist auch keiner zu Hause, doch in der Nummer drei erfährt Judy schließlich, dass Mrs. West – «eine reizende alte Dame» – im Jahr zuvor gestorben ist. So viel zum Thema gut informierter Ladenbesitzer.
Frustriert geht Judy weiter bis ans Ende der Straße. Links von ihr liegt auf einer kleinen Anhöhe die Kirche, viereckig und gewaltig, von Grabsteinen umgeben. Judy läuft die wenigen Stufen hinauf und liest, dass die Kirche St. Barnabas aus dem zehnten Jahrhundert stammt. Sie wurde zur Zeit der Angelsachsen erbaut und von den Normannen niedergebrannt und neu errichtet. Im Mittelalter verfiel sie und wurde schließlich von einem viktorianischen Philanthropen erneut wiederaufgebaut. Die Informationstafel weist die Kirche als anglikanisch aus, doch früher «hat sie einmal uns gehört», wie Judys irisch-katholischer Vater es ausdrücken würde. Judy drückt die Klinke, doch das Portal ist verschlossen.
Es hat angefangen zu regnen. Judy zieht ihre Kapuze hoch und beschließt, es für heute gut sein zu lassen. Sie hat ihr Bestes getan, doch die Bewohner von Broughton Sea’s End sind offensichtlich alle tot oder im Altersheim, oder sie sitzen mit einer Fischereizeitschrift zu Hause. Ein seltsames Dorf: hübsch, aber irgendwie auch sehr trist. Vielleicht liegt es ja am Wetter, dass alles so grau und verwaschen wirkt, wie nach einer Niederlage. Im Schaufenster des Ladens fordert ein Schild dazu auf, den Kampf gegen die Küstenerosion aufzunehmen, doch Judy kann sich kaum vorstellen, dass die Dorfbewohner zu solch energischen Maßnahmen in der Lage sind. Das Meer wird sie verschlingen: die Häuser, den Laden, sogar die Kirche. Das Meer wird am Ende die Oberhand behalten.
Als sie gerade wieder zur Treppe gehen will, fällt ihr ein Name auf einem der Grabsteine ins Auge. Sie geht näher heran, um ihn sich anzusehen: «Keaton ‹Buster› Hastings, Träger des Military Cross. 1893–1989. Er kämpfte den gerechten Kampf.» Das muss wohl Jack Hastings’ Vater sein. Zumindest einer, der gern gekämpft hat. Was hat Archie noch gleich über ihn gesagt? Großartiger Kerl … Hart wie Kruppstahl. Und er hat ein strenges Regiment geführt. Wir haben nicht einfach nur Soldaten gespielt. Auf Busters Grabstein findet sich keine der üblichen Floskeln von wegen guter Ehemann und Vater, doch auf dem Grab steht ein frischer Strauß roter Rosen.
Judy geht zwischen den Gräbern hindurch, die teilweise liebevoll gepflegt, teilweise von Efeu überwuchert und mit weichem Moos bedeckt sind, und findet «Sydney Austin, 1880–1961», «Thomas William Burgess, 1890–1971» und «Ronald Caffrey, 1901–1996». Der Boss hatte also doch recht: Sie sind alle noch da. Sie sind nur alle tot.
Auch schon egal, denkt Nelson, während er die Nummer der Anwaltskanzlei Wentworth und Thenet wählt. Whitcliffe hat schließlich doch zähneknirschend in die Obduktion eingewilligt und zugesichert, mit seinen Verwandten zu reden. Anschließend hat er hocherhobenen Hauptes das Revier verlassen, ohne ein weiteres Wort zu irgendwem. Und Nelson will seine Abwesenheit nutzen, um Näheres über Archies Testament in Erfahrung zu bringen. Als er Rechtsanwalt Wentworth endlich an der Strippe hat, zeigt der sich misstrauisch und gibt erst nach, als Nelson ihn darauf hinweist, dass das Testament ohnehin öffentlich einsehbar wird, sobald die Vollstreckung erfolgt ist.
Es ist ein schlichtes Testament. Archie hat sein Vermögen zu gleichen Teilen an seine Enkel verteilt, auch an Whitcliffe. Viel ist es nicht, doch Nelson vermutet, dass die Rechnungen im Greenfields Care Home einen Großteil von Archies Geld geschluckt haben. Darüber hinaus geht eine Mappe mit Briefen an Hugh Anselm und hundert Pfund sowie etliche Krimis an Maria.
Außerdem enthält das Testament eine unerwartete Botschaft für Nelsons Chef: «Mein lieber Gerald, ich bin sehr stolz auf dich und weiß, du wirst das Richtige tun. Bitte kümmere dich um Maria und George.» George? Das muss wohl Marias Sohn sein, für den Archie immer Weihnachtsgeschenke besorgt hat. Aber warum sorgt Archie nicht selbst für George und bittet stattdessen seinen Enkel darum? Irgendwie kann Nelson sich Whitcliffe nur schlecht in
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