Gezeitengrab (German Edition)
Mitglieder der Home Guard. Das war Hugh Anselm.»
«Mag ja sein, aber was hat er mit der Sache zu tun?»
«Ich glaube», sagt Nelson, «er wurde ermordet.»
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16
«Ich habe getan, was ich konnte», sagt Joyce Reynolds. «Aber ich habe ja auch noch meine eigene Familie, verstehen Sie?»
«Das war sicher nicht einfach», meint Judy mitfühlend, «sich um einen alten Onkel kümmern zu müssen.»
Joyce Reynolds entspannt sich sichtlich und setzt eine fromme Miene auf, obwohl Judy und Nelson genau wissen, dass sich der Kontakt mit ihrem alten Onkel Hugh Anselm auf die alljährliche Weihnachtskarte und zwei Besuche in seiner Seniorenresidenz beschränkt hat. Zwei Besuche – in mehr als zehn Jahren.
«War er einsam?», hat Nelson Kevin Fitzherbert gefragt.
«Einsam?» Fitzgerald lächelte traurig. «Klar. Wir sind hier alle einsam. Aber Hughie kam besser damit zurecht als die meisten. Er hatte seine Bücher, seine Kreuzworträtsel, seine Briefe. Er hat die Welt nie völlig ausgesperrt.»
«Ihr Onkel muss ja ein interessanter Mensch gewesen sein», sagt Nelson jetzt und nimmt sich einen zweiten Keks. Eigentlich hat Joyce keinen großen Wert auf Besuch von der Polizei gelegt, aber wo sie nun schon da sind, scheint sie entschlossen, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Sie ist eine stämmige Dame Ende fünfzig und trägt eine Rüschenbluse und eine schwarze Samthose. Judy vermutet, dass sie sich für ihre Gäste zurechtgemacht hat, was Nelson aber kaum beeindrucken wird. Joyce ist die Tochter von Stephen Anselm, Hughs älterem Bruder, der 1984 gestorben ist. Sie hat drei Kinder und zwei Enkelkinder. Von allen zeigt sie ihnen Fotos.
Judy betrachtet die Fotos interessiert. So viele Bräute in bauschigen Kleidern und ellenlangen Schleppen. So viele Hüte, so viele lächelnde Gesichter. Vergeblich versucht sie, sich ihr eigenes Hochzeitsfoto auszumalen. Das Kleid, das sie letzte Woche anprobiert hat, ist wunderschön, keine Frage; problematisch ist nur die Frau, die es tragen soll. Judy leidet keineswegs unter Minderwertigkeitskomplexen; sie ist sich sicher, dass sie mit Unterstützung ihres Friseurs und etwa einer Tonne Make-up schon ganz hübsch aussehen kann. Aber … die Miene! Wie in aller Welt soll sie so ein Lächeln unter Tränen, so einen gerührten und doch seligen Blick hinkriegen, während sie die ganze Zeit nur den Moment herbeisehnt, wenn alles vorbei ist und sie wieder ihre alte Jeans anziehen und Top Gear schauen kann? Aber daran darf sie im Augenblick nicht denken. Sie ist schließlich Polizistin und führt gerade eine Befragung durch. Clough wäre liebend gern mit hierhergekommen, um seinen Claim abzustecken und mit dem Boss einen Ausflug unter Männern zu machen, doch Judy hat den Zuschlag bekommen, weil Befragungen ihre große Stärke sind. Jetzt muss sie aber auch zeigen, was sie kann.
«Sergeant Johnson heiratet auch demnächst», sagt Nelson unvermittelt.
Judy wirft ihm einen bösen Blick zu. Natürlich weiß sie, was er vorhat. Er will eine tendenziell feindselige Zeugin mit persönlichen Informationen weichklopfen, menschliche Wärme in das Gespräch bringen, einfühlsam sein (ein Wort, das er sonst nicht leiden kann). Das ist sicher ein guter Schachzug. Trotzdem kann sie den spontanen Wunsch nicht unterdrücken, Nelson möge in einen brennenden Höllenschlund stürzen und von boshaften Dämonen gepiesackt werden.
Die Zeugin allerdings ist eindeutig weichgeklopft. «Ach, wirklich?», fragt sie und wendet sich mit allen Anzeichen echten Interesses zu Judy um. «Wann denn?»
«Im Mai. Hier in St. Joseph.»
«In der katholischen Kirche?»
«Ja.»
«Ich bin auch katholisch aufgewachsen», erzählt Joyce, «aber mein Mann hielt nichts davon, deswegen bin ich Unitarierin geworden.»
«War Hugh katholisch?», fragt Nelson.
«Ja», sagt Joyce. «Mein Vater hat immer erzählt, dass er als Junge sehr fromm war, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er je zur Kirche gegangen wäre.»
«Haben Sie Fotos von Hugh und Ihrem Vater?», fragt Nelson freundlich. Er versucht, Judy ein entschuldigendes Lächeln zuzuwerfen. Sie reagiert nicht darauf.
Aus einer Schublade weit unter der mit den dicken, in Seide gebundenen Hochzeitsalben zieht Joyce einen braunen Umschlag mit ein paar Sepiafotografien. Zwei Jungen, beide mit Brille, schauen zu ihnen auf. Der ältere trägt eine Schuluniform, der jüngere einen weißen Anzug mit weißer Schärpe.
«Seine Erstkommunion?», fragt
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