Gezeitengrab (German Edition)
Judy.
Joyce zuckt die Achseln. «Wahrscheinlich. Und das ist Hugh in seiner Royal-Air-Force-Uniform. Er konnte selbst nicht fliegen wegen seiner Augen, aber ich glaube, er war Navigator.»
Derselbe eindringliche, kurzsichtige Blick. Dieselbe leicht verkrampfte Haltung. Hugh Anselm gehörte wohl zu den Männern, an denen Uniformen einfach verkehrt aussehen. Er wirkt angespannt, ernst, hält die Hände zu Fäusten geballt. Wahrscheinlich ist er nach seiner Zeit bei der Home Guard zur Royal Air Force gegangen, denkt Judy.
«Was hat Ihr Onkel dann nach dem Krieg gemacht?», fragt Nelson.
«Studiert. Da war er der Einzige in der Familie. Mein Vater meinte immer, Hugh war der Gescheite.»
«Und nach dem Studium?»
«Das weiß ich nicht genau. Er hat alles Mögliche gemacht. Als Lehrer gearbeitet, in einer Bank. Eine Zeitlang hatte er sogar ein eigenes Restaurant. Aber ich sagte ja schon, wir standen uns nicht sehr nahe.»
«Was ist das hier für ein Bild?» Judy zieht ein Foto von einer Gruppe Männer hervor, die stolz neben einem Boot posieren. Auf diesem Bild sieht Hugh älter aus, doch die Brille und die angespannte Miene sind ihm erhalten geblieben.
«Ach, das muss das Rettungsboot sein. Er war sehr aktiv bei der Wasserrettung.»
«In Broughton Sea’s End?», fragt Nelson.
«Nehme ich an.»
«Inzwischen gibt es dort kein Rettungsboot mehr, oder? Jemand hat mir erzählt, die Anlegerampe wäre nicht mehr zu benutzen.»
Joyce Reynolds zuckt wieder mit den Schultern. «Davon weiß ich nichts. Broughton ist ein komisches, abgelegenes Dorf. Als die Kinder klein waren, sind wir manchmal mit ihnen an den Strand gefahren, aber ich war jetzt schon seit Jahren nicht mehr dort. Onkel Hugh mochte den Strand von Broughton nicht. Er fand, da herrsche so eine ungesunde Atmosphäre. So hat er das immer ausgedrückt.»
Nelson betrachtet das Foto. «Hat Ihr Onkel irgendwann einmal von Jack Hastings geredet?», fragt er. «Oder von dessen Vater, Buster?»
«Ist das der Mann, der in dem großen Haus auf dem Felsen wohnt, das angeblich demnächst ins Meer fällt? Nein, ich kann mich nicht erinnern, dass Onkel Hugh ihn je erwähnt hätte.»
«Buster Hastings war Captain der Home Guard.»
«Vom Krieg hat Hugh nie erzählt. Um die Wahrheit zu sagen, er war so ein kleiner Kommunist. Das war mit ein Grund, warum wir uns so selten gesehen haben. Mein Mann hält nichts von solchen Sachen.»
Und auch nichts vom katholischen Glauben, denkt Judy. Mr. Reynolds’ Vorurteile decken offenbar ein breites Spektrum ab.
«Mr. Anselm hatte ein spannendes Leben», sagt Nelson. «Erstaunlich, dass er kein Buch geschrieben hat.»
«Ach, er schrieb ständig», sagt Joyce. «Irgendwo habe ich noch einen ganzen Berg von dem Zeug.» Sie verschwindet und kehrt kurz darauf mit einem dicken Pappordner zurück, den sie Nelson in die Hand drückt.
Nelson schaut hinein. Der Ordner ist randvoll mit Akten, Schreibheften und Briefen. Wahllos schlägt Nelson eines der Hefte auf. 5. Januar 1963 , liest er. Langsam bin ich nicht mehr so überzeugt von Kennedy. Kleine, säuberliche Wörter, in einer dünnen Schreibschrift geschrieben. Darunter liegt die leicht verblasste Kopie eines Briefes an die Firma Nestlé, in dem der Verfasser sich über die Geschäftspraktiken des Unternehmens in der Dritten Welt beklagt. Hochachtungsvoll, Hugh P. Anselm.
«Wofür stand denn das P?», will Nelson wissen.
«Bitte? Ach, das in Onkel Hughs Namen, meinen Sie? Für Patrick, glaube ich.»
«Kann ich mir die Unterlagen mal ausleihen?» Nelson deutet auf den Pappordner.
«Nehmen Sie sie ruhig mit», meint Joyce gleichgültig. «Ich habe sowieso nicht die Zeit zum Lesen.»
Archie Whitcliffes Lieblingspflegerin Maria geht es anscheinend ähnlich. Zumindest sieht sie ziemlich verständnislos drein, als sie ihnen die Liste der Bücher zeigt, die der alte Mann ihr laut Testament vermacht hat.
«Das ist ja wirklich lieb von ihm, aber …» Sie breitet hilflos die Arme aus. «Aber meine Englisch ist viel zu schlecht. Und die hören sich sehr schwierig an.»
Maria hat die eigentlichen Bücher noch nicht zu sehen bekommen – ebenso wenig wie das Geld, das ihr hinterlassen wurde –, aber die Anwaltskanzlei hat ihr die Titelliste vorab geschickt.
Sie sitzen in Marias winzigem Einzimmerapartment in Norwich. Die Wohnung ist akribisch aufgeräumt, aber auch sehr kahl: ein Doppelbett, ein Tisch und zwei Stühle. Offenbar schläft sie mit ihrem kleinen Sohn im selben Bett,
Weitere Kostenlose Bücher