Gezeitengrab (German Edition)
Vorlesungssaal der Universität und spricht zu einem zusammengewürfelten Grüppchen Studenten. Die Luft im Raum ist schlecht, ein oder zwei Zuhörern fallen schon fast die Augen zu. Eigentlich sollte sie versuchen, ihre Aufmerksamkeit wieder mehr zu fesseln, aber das heutige Thema, Datierung und Handhabung von Knochenfunden, ist selbst für Ruth nicht sonderlich spannend. Dummerweise kommen die meisten Studenten auch noch aus dem Ausland, vorwiegend aus Asien, und Englisch ist nicht ihre Muttersprache. Als sie beim Themenkomplex Entkalkung und Fossilisation angekommen ist, spürt Ruth, dass die meisten schon längst kein Wort mehr verstehen.
Sie schaltet ihre PowerPoint-Präsentation weiter. Wie die meisten Akademiker würde sie insgeheim viel lieber mit handgeschriebenen Folien arbeiten.
«Hier sehen Sie ein Beispiel von der Mary Rose . Anaerober Schlick eignet sich hervorragend, um Knochenmaterial zu erhalten.»
Anders als der Sand, in dem die Toten von Broughton Sea’s End lagen. Ahnte derjenige, der sie dort vergraben hat, dass ihre Knochen im Lauf der Zeit komplett zerfallen würden? Und doch kommt nach Ruths Erfahrung alles Unrecht irgendwann wieder an den Tag. Dann wird das Böse weiterhin im Verborgenen lauern.
Die letzte Seite der Präsentation. «Bei einer Feuerbestattung wird der organische Anteil der Knochen zerstört. Prähistorische Feuerbestattungen entwickelten allerdings nicht die nötige Hitze, um die Knochen komplett zu zerstören. Das Fleisch verbrannte, aber die Knochen blieben zurück; sie wurden weiß und brüchig, behielten jedoch insgesamt ihre erkennbare Form. Aus solchen Knochenfragmenten kann die forensische Archäologie wertvolle Erkenntnisse gewinnen. Haben Sie noch Fragen dazu?»
Eine interessante Frage zur Mumifizierung später ist Ruth auf dem Weg zurück ins Büro. Vor dem Seminar um zwei bleibt ihr gerade noch Zeit für ein Sandwich. Tatjanas Anwesenheit schränkt Ruths Möglichkeiten, zu Hause zu arbeiten, deutlich ein. Außerdem ist sie gezwungen, ordentlich einzukaufen. Wenn sie Kate abholt, muss sie anschließend noch beim Supermarkt vorbei. Das ist zwar anstrengend, doch Kate macht es großen Spaß, im Kindersitz des Einkaufswagens zu sitzen, andere Kunden anzustrahlen und auf der Müslipackung herumzukauen.
In gewisser Weise ist auch Tatjanas Besuch anstrengend. Das kleine Haus ist im Grunde viel zu klein für zwei Erwachsene. Ruth weiß noch, wie sie damals, nachdem sie sich von Peter getrennt hatte, neben all der Trauer, den Verlust- und den Schuldgefühlen auch zutiefst erleichtert war, endlich ihre Bücher auf dem Wohnzimmerboden verteilen und die Tür auflassen zu können, wenn sie aufs Klo ging. Tatjana und sie verbringen einen Großteil der Zeit damit, sich für irgendetwas beieinander zu entschuldigen und der anderen auf der Treppe den Vortritt zu lassen. Jedes Mal, wenn Kate nachts aufwacht, fühlt Ruth sich schrecklich schuldig, Tatjana gestört zu haben. Und anstatt nach einem anstrengenden Tag an der Uni einfach auf dem Sofa zu hängen und Coronation Street zu gucken, muss sie nun Interesse an den Wiederholungen von Time Team auf Channel 4 heucheln. Immerhin hat Tatjana jetzt mit ihren Vorträgen begonnen und ist den ganzen Tag unterwegs. Und manches ist ja auch ganz schön: Ruth kann mit jemandem über die Arbeit reden, kocht jeden Tag ordentlich, hat eine gute Entschuldigung, eine Flasche Wein zum Abendessen aufzumachen, und kann mit Tatjana darüber lachen, wenn Flint mal wieder in der Katzenklappe stecken bleibt.
Ruth holt sich ein Sandwich aus der Cafeteria und eilt damit in ihr Büro zurück, um nicht von einem ihrer Kollegen in ein langwieriges Gespräch über Examensnoten oder prähistorische Bestattungspraktiken verwickelt zu werden. Außerdem ist sie sehr darauf bedacht, Cathbad nicht in die Arme zu laufen. Sie mag ihn und freut sich, dass er sich so für Kate interessiert, aber in letzter Zeit spielt er ein bisschen zu häufig auf Nelsons Rolle als Kates geistiger Vater an. Ruth weiß, dass Cathbad etwas ahnt, wird es aber natürlich nie mit Sicherheit wissen, solange sie ihm nichts erzählt. Doch wenn sie ehrlich mit sich ist, dann ist der Drang, mit jemandem darüber zu reden, manchmal fast übermächtig. Am Anfang der Schwangerschaft hat ihr der Gedanke noch gefallen, ein Geheimnis zu hüten, so wie das Baby in ihrem Bauch. Jetzt allerdings fragt sie sich, wie sie überhaupt je auf den Gedanken verfallen konnte, Kates ganze Kindheit, ihr
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