Gezeitengrab (German Edition)
denkt Judy. Von dem Kind zeugen nur eine Kunststoffkiste mit Spielzeug und ein Teddybär auf dem Bett. Auf Marias Behelfsnachttisch, einem alten schwarzen Koffer, stehen das Foto eines lächelnden, älteren Paares und eine große Marienfigur. Kein Fernseher, kein Radio. Judy fragt sich, wie sie das Kind wohl bei Laune hält. Etwa mit dem sorgfältig in der Kiste verstauten Spielzeug? Oder mit der Figur der Mutter Gottes? Maria hat erzählt, Archie habe ihr Geld gegeben, um Spielzeug für den Kleinen zu kaufen. Was sie davon wohl gekauft hat?
«Bücher», lautet die überraschende Antwort. Maria öffnet den Koffer und zeigt ihnen jungfräuliche Ausgaben von Pu der Bär, Peter Rabbit und Babar, dem Elefanten.
«Die lesen wir immer abends», berichtet sie. «Ich will, dass er guten Start in Leben bekommt. George ist sehr klug, er kann gut lesen.»
«Hat Archie Ihnen all seine Bücher hinterlassen?», fragt Judy. Sie stellt sich den alten Mann und die hübsche junge Mutter vor, wie sie beisammensitzen, sich über Agatha Christie und Babar unterhalten und sich eine Zukunft für den kleinen George mit seinem erstaunlichen Namen ausmalen. Vielleicht wollte Archie George ja seine Bibliothek vermachen.
«Nein.» Maria macht gleich wieder ein sorgenvolles Gesicht. «Nur ein paar.»
«Seine Lieblingsbücher vielleicht?»
«Nein. Die meisten ich kenne gar nicht.»
«Was glauben Sie, warum hat er sie Ihnen vermacht?», fragt Judy.
«Ich weiß nicht. Ich habe immer gekauft Bücher für ihn, in Wohlfahrtsladen. Vielleicht zum Dankesagen.»
Ratlos reicht sie Judy die Liste. Nelson schaut ihr über die Schulter.
Die dritte Wahrheit von Kurt Aust
Jack Taylor liegt falsch von Ken Bruen
Das Böse unter der Sonne von Agatha Christie
Das vierte Protokoll von Frederick Forsyth
Die neununddreißig Stufen von John Buchan
Der Hund der Baskervilles von Arthur Conan Doyle
Still ruht der See von Martha Grimes
Die gebogene Kerze von Edgar Wallace
«Und diese Titel sagen Ihnen alle gar nichts?», fragt Nelson. Er selbst kennt nur eines der Bücher, das von Agatha Christie. Das hat er mal im Fernsehen gesehen. Ach ja, und den Hund der Baskervilles . Einmal kannte er einen Hundeführer, dessen Schäferhund hieß Baskerville.
«Nein.» Maria hat wieder Tränen in den Augen. «Aber es ist lieb von ihm. Er war immer so lieb.»
Lieb war es schon, denkt Nelson, als sie durch das trostlose Treppenhaus, in dem es nach gekochtem Kohl und Schlimmerem stinkt, nach unten gehen. Aber etwas mehr Geld hätte sicher mehr genützt. Eine Summe, die reicht, um ein ordentliches Bett für den Jungen zu kaufen und vielleicht auch einen Fernseher. Aber vielleicht sind die Bücher ja Erstausgaben und Millionen wert. Maria könnte eine Entlastung brauchen. Die astronomischen Gebühren, die die Bewohner von Greenfields zahlen, schlagen sich offenbar nicht im Gehalt des Pflegepersonals nieder.
Draußen atmet Nelson erst mal tief durch und merkt, dass Judy dasselbe tut.
«Kein tolles Leben, was?», sagt er.
«Nein.» Judy kaut auf der Unterlippe. «Wenn ich mir vorstelle, was die Kinder meiner Schwester alles haben.»
«Heutzutage haben die meisten Kinder viel zu viel», brummt Nelson, während er die Autotür öffnet. Er denkt an die zahllosen Spielsachen, die er im Lauf der Jahre weggeschmissen oder weiterverschenkt hat: Spiele, bei denen die Hälfte der Steine fehlte, Barbie-Puppen mit fehlenden Gliedmaßen, tolle technische Geräte, die nach der ersten Begeisterung unbeachtet in der Ecke lagen, ungelesene Bücher.
«Ich frage mich, was mit Georges Vater ist», sagt Judy. «Er scheint sich ja nicht sehr einzubringen.»
Nelson lässt den Wagen an, ohne daran zu denken, dass er den Gang noch eingelegt hat, und flucht, als der Mercedes einen Satz nach vorn macht. Herrgott, was haben die Leute bloß die ganze Zeit mit Vätern? Johnson ist schon den ganzen Tag so komisch. Allein, wie sie die Hochzeitsfotos bei Joyce Reynolds angeschaut hat, und jetzt wird sie auch noch rührselig wegen diesem kleinen Jungen. Er weiß ja, dass sie bald heiratet, aber sie muss wirklich lernen, ihre Gefühle aus der Polizeiarbeit rauszuhalten.
«Wo fahren wir hin?» Judy stemmt sich gegen das Armaturenbrett, als Nelson um eine Kurve brettert.
«Nach Sea’s End House», sagt Nelson. «Ich glaube, wir sollten Mr. Hastings noch mal ein paar Fragen stellen.»
«Knochensubstanz ist mineralisch und organisch im Verhältnis zwei zu eins.»
Ruth steht im kleineren
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