Gezeitengrab (German Edition)
Judy nimmt sich ein Stück Shortbread und hofft insgeheim, dass diese Befragung möglichst lange dauern wird. Sie hat nicht die geringste Lust, weiter mit dem zunehmend mürrischen Nelson durch die Gegend zu fahren. Hoffentlich kommt Jack Hastings nicht zu bald wieder. Sie kann sich zwar nicht vorstellen, wie man bei dem Wetter freiwillig einen Spaziergang machen kann, aber wenn man Hunde hat, müssen die ja schließlich vor die Tür. Ein guter Grund, sich keinen Hund zuzulegen.
Sie hat ihre zweite Tasse Tee gerade halb geleert, als Jack Hastings hereinkommt, scheinbar inmitten eines ganzen Schwarms von Hunden, der sich aber rasch als zwei hysterisch wedelnde Cockerspaniels erweist.
«Detective Chief Inspector! Was für eine nette Überraschung.»
Nelsons Miene bleibt steinern, er nimmt die Ironie – falls es denn welche ist – nicht zur Kenntnis.
«Ich sagte ja schon, dass ich mich noch einmal mit Ihnen unterhalten muss.»
«Unterhalten? Natürlich, gern. Sehr gern. Unterhalten wir uns.»
Hastings bleibt vor dem Kamin stehen und reibt die Hände aneinander. Eine bemerkenswert defensive Haltung, denkt Judy, wie ein in die Enge getriebenes Wild oder ein Politiker, der dem versammelten Oberhaus Rede und Antwort stehen muss.
«Mr. Hastings», setzt Nelson an. «Bei meinem letzten Besuch hatten wir über die Home Guard gesprochen und darüber, welche Mitglieder vielleicht noch am Leben sind. Ihre Mutter erwähnte Archie Whitcliffe. Er hat Ihnen wohl hin und wieder eine Weihnachtskarte geschrieben.»
Hastings sieht zu seiner Mutter hinüber, die hochkonzentriert damit beschäftigt ist, eine weitere Kanne Tee zu machen.
«Ja, das weiß ich noch …», sagt er zögernd.
«Mr. Whitcliffe lebte im Greenfields Care Home. Haben Sie ihn dort mal besucht?»
«Nein.» Jetzt sieht Hastings etwas verwirrt drein.
«Wie ist es mit Hugh Anselm? Wir hatten kurz am Telefon über ihn gesprochen.»
Irene Hastings stellt unvermittelt die Teekanne ab und eilt geschäftig aus der Küche. Nelson überlegt, ob er sie zurückrufen soll. Schließlich ist sie ja die Einzige, die sich an die Kriegsjahre erinnern kann. Jack Hastings scheint gar nicht aufzufallen, dass seine Mutter verschwunden ist.
«Hugh Anselm», wiederholt er. «An den Namen erinnere ich mich nicht.»
«Ihre Mutter hat ihn erwähnt. Er gehörte zu den jüngeren Mitgliedern der Home Guard. Genau wie Archie Whitcliffe.»
«Sie hat ein sehr gutes Gedächtnis für diese Zeit», wirft Stella ein, die jetzt das Teekochen übernommen hat. «Aber wenn sie zu viel daran denkt, regt sie das auf. Ich glaube, das waren schreckliche Zeiten hier in Broughton.»
Nelson spricht weiterhin zu Jack Hastings. «Dann haben Sie also weder Archie Whitcliffe noch Hugh Anselm je kennengelernt?»
«Nein, ich glaube nicht. Worum geht es hier eigentlich?»
«Archie Whitcliffe ist letzte Woche gestorben, Hugh Anselm ein paar Wochen vor ihm.»
«Aber Sie können doch nicht ernsthaft vermuten, dass das unter verdächtigen Umständen geschah? Das waren doch alte Männer. Am Telefon haben Sie gesagt, Sie glauben, dieser Hugh wäre ermordet worden.»
Judy mustert Nelson. Es sieht dem Boss gar nicht ähnlich, so etwas zu einem Außenstehenden zu sagen. Keine vorschnellen Schlüsse – das war immer sein Wahlspruch. Wie kommt er plötzlich dazu, seine Vermutungen an einen Zivilisten weiterzugeben, der zu allem Überfluss auch noch als Verdächtiger in Frage kommt? Sie denkt an die ersten Ermittlungen nach Hugh Anselms Tod. Clough hat das Ganze als tragischen Unfall bezeichnet, die Situation hatte sogar eine gewisse makabere Komik. «Der alte Knacker saß tot auf seinem Treppenlift.» Inzwischen aber steht das scheinbar gewöhnliche Ableben der beiden alten Männer in einem ganz anderen Licht, und plötzlich ist es, als wäre etwas Unheilvolles in die gemütliche Küche gedrungen, das Judy gar nicht recht benennen kann.
«Wir wollen zum jetzigen Zeitpunkt nichts ausschließen», sagt Nelson. Vielleicht bereut er ja selbst schon, so viel verraten zu haben.
Jack Hastings wechselt einen Blick mit seiner Frau, und sie setzt bereits dazu an, etwas zu sagen, da kommt Irene in die Küche zurück. Sie tritt zu Nelson und legt ein Foto vor ihn auf den Tisch.
«Das ist Archie», sagt sie leise. «Der, der seine Kappe so schief trägt. Mein Buster hat ihn immer wieder deswegen ermahnt. Und der mit der Brille, das ist Hugh.»
Judy schaut Nelson über die Schulter. Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt eine
Weitere Kostenlose Bücher