Gezeitengrab (German Edition)
ganzes Leben zu überstehen, ohne jemandem zu erzählen, wer der Vater ist.
Kate muss sie es natürlich sowieso irgendwann erzählen, aber wer weiß schon, was bis dahin noch alles passiert? Nelsons Töchter sind bald aus dem Haus, es wird nicht mehr nötig sein, sie zu schützen, und vielleicht hat Nelson Michelle dann ja längst verlassen … Doch den Gedanken merzt Ruth sofort energisch aus und führt sich vor Augen, wie Nelson seiner Frau bei der Namensweihe in den Mantel half und Michelle sich lachend an ihn lehnte. So hat er sie, Ruth, noch nie im Leben angesehen. Sie muss es einfach akzeptieren: Nelson liebt Michelle und nicht sie. Außerdem, sagt sie sich, würde sie doch ohnehin nicht mit ihm zusammenleben wollen. Er ist viel zu sexistisch, zu machohaft, zu rechthaberisch. Aber gut im Bett, ergänzt sie unwillkürlich und ist selbst entsetzt darüber.
Rasch überquert sie den Hof zum naturwissenschaftlichen Fachbereich. Es ist bitterkalt heute, der Wind weht in eisigen Böen, und hin und wieder gibt es einen Schneeschauer. Ruth ist erstaunt, selbst bei diesen Witterungsbedingungen noch ein Pärchen küssend und eng umschlungen unter der überdachten Arkade stehen zu sehen. Als sie näher kommt, erkennt sie Dieter Eckhart in seiner grünen, typisch deutschen Lodenjacke und Clara Hastings, schmal und mädchenhaft in Jeans, das Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Sie sind so miteinander beschäftigt, dass sie Ruth gar nicht bemerken, und sie hat keine Lust, ein Gespräch mit ihnen anzufangen. Doch dann, sicher im Warmen, schaut sie noch einmal aus dem Gangfenster im ersten Stock. Sie stehen immer noch da, von Schneeflocken umwirbelt, und halten sich leidenschaftlich umarmt. Doch während Ruth hinunterschaut, hebt Dieter Eckhart den Kopf und sieht sie direkt an. Seine Augen sind so hell und so kalt wie der Schnee.
In Broughton Sea’s End ist es noch um einiges stürmischer. Nelson und Judy müssen sich auf dem Küstenpfad ducken, um nicht vom Felsen geweht zu werden. Aus dem Schnee ist stechender Graupel geworden, und Judy zieht sich die Mütze bis über die Augen – Nelson trägt grundsätzlich keine Kopfbedeckung. Unter ihnen schlagen die Wellen donnernd an die Felsen. Judy fragt sich, wie oft Sea’s End House einem solchen Ansturm wohl noch trotzen kann. Das äußerste Türmchen ist fast auf gleicher Höhe mit dem Felsrand, die Flagge auf seiner Spitze flattert wild. Niemals würde ich in diesem Haus schlafen können, denkt Judy. Wind und Wellen machen einen solchen Lärm, dass es an ein Wunder grenzt, wenn überhaupt jemand ihr Klopfen hören kann, obwohl Nelson den Messinglöwen unter seinen Schlägen förmlich erzittern lässt.
Doch wenige Minuten später wird die Tür geöffnet, und eine dunkelhaarige Frau empfängt sie lächelnd.
Nelson erwidert das Lächeln nicht. «DCI Nelson», sagt er. «Ich hatte angerufen, um zu sagen, dass wir kommen.»
«Ach ja, guten Tag», erwidert die Frau. «Ich bin Stella, Jacks Frau.»
Judy findet sie unglaublich sympathisch. Aber womöglich hätte sie jeden sympathisch gefunden, der sie von dem eisigen Felsen ins Warme geholt und in eine Küche mit einem flackernden Kaminfeuer und blank polierten Töpfen und Pfannen geführt hätte. Um das Idyll perfekt zu machen, sitzt sogar noch eine reizende alte Dame am Kamin und strickt.
«Das ist Irene, meine Schwiegermutter», stellt Stella sie vor. «Mutter!» Sie spricht ein wenig lauter. «Der Polizist ist noch einmal hier, um mit uns zu reden.»
Judy muss ein Grinsen unterdrücken, als sie hört, dass Nelson zum bloßen «Polizisten» degradiert wird, wie eine Figur aus einem Agatha-Christie-Film. Irene lächelt sie an.
«Sie sind aber nicht die Frau, die letztes Mal mit dabei war.»
«Nein», erwidert Nelson etwas zu rasch. «Das war Doktor Galloway, die forensische Archäologin. Das hier ist Detective Sergeant Johnson.»
Judy sagt guten Tag und nimmt den angebotenen Tee dankend an. Dann war der Boss also schon mit Ruth hier?
«Wollen wir hier in der Küche bleiben?», schlägt Stella Hastings vor. «Hier ist es wärmer als im Salon. Jack müsste bald zurück sein. Er ist mit den Hunden draußen.»
Salon . Judy kann sich nicht erinnern, dieses Wort im realen Leben schon einmal gehört zu haben. Sie wirft Nelson einen Blick zu, den er mit hochgezogenen Brauen erwidert.
Stella setzt Wasser auf, Irene stellt Tassen und Untertassen zurecht. Das Feuer prasselt, und von draußen schlägt der Graupel an die Scheiben.
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