Gezeitengrab (German Edition)
Horchposten in Sheringham, wenige Kilometer von hier entfernt. Das war ein ganz konkretes Gebäude, eigentlich ein Turm, von dem man auf Nazi-Schiffe draußen auf dem Meer lauschen konnte. Der Horchposten war ausschließlich von Frauen bemannt. Irene gehörte dazu.»
Befraut also, denkt Judy, hütet sich aber, den Gedanken laut zu äußern.
«Was soll das heißen, es wurde auf Schiffe gelauscht?», fragt Nelson.
«Eben das. Draußen auf dem Meer kreuzten deutsche Torpedoboote, deren Morse-Botschaften man hören konnte. Was glauben Sie denn, wie die Codeknacker in Bletchley Park an die codierten Botschaften gekommen sind, mit denen sie gearbeitet haben? Die kamen von den Horchposten. Das war ernsthafte, wichtige Kriegsarbeit.»
«Die Torpedoboote haben gar nicht gemorst», mischt sich Irene wieder ein. «Wir haben sie auf Deutsch miteinander reden hören. Siegfried, wo bist du? Hier, Hans. »
Nelson und Judy wechseln einen Blick. Jetzt hört es sich noch mehr nach Kinderspiel an. Siegfried, wo bist du? Nelson wendet sich wieder Irene zu. «Hat Ihr Mann denn mit Ihnen besprochen, was Sie tun sollten, falls es tatsächlich zu einer Invasion gekommen wäre?»
«Aber ja», antwortet Irene. «Ich hätte erst die Kinder und dann mich selbst erschießen sollen. Buster wollte nicht, dass wir gefangen genommen werden, wissen Sie.»
«Er war verrückt», sagt Judy. «Buster Hastings war verrückt.»
Sie sitzen in Nelsons Wagen, und Nelson lässt den Motor laufen, damit die Scheiben wieder frei werden. Draußen schüttet es immer noch, die Scheibenwischer kämpfen tapfer gegen die Wassermassen. Hin und wieder rüttelt ein Windstoß das Auto durch.
«Erst die Kinder umbringen und dann sich selbst», sagt Judy. «Haben das nicht auch irgendwelche Nazis gemacht?»
«Die Frau von Goebbels, ja. Sie hat ihre sechs Kinder lieber umgebracht, als sie in einer Welt leben zu lassen, in der Deutschland den Krieg verloren hat.»
«Aber das ist völlig sinnlos», meint Judy. «Selbst wenn die Deutschen eingefallen wären, wäre den Frauen und Kindern doch nichts passiert. Und außerdem wären sie bestimmt nie in diesem schrägen, kleinen Dorf an Land gegangen.»
«Aber das haben sie doch getan», ruft ihr Nelson ins Gedächtnis. «Sechs Deutsche sind an Land gegangen, und sechs Deutsche wurden dort getötet.»
«Glauben Sie, das war Buster Hastings?»
«Möglich. Scheint mir ein ziemlich entschlossener Mensch gewesen zu sein.»
«Er war verrückt.»
«Kann sein.» Nelson versucht, sich eine Welt vorzustellen, in der ein Mann seiner Frau sagt, sie solle die Kinder töten, damit sie dem Feind nicht in die Hände fallen. Eine Welt, in der Fischhändler, Gärtner und kluge Wissenschaftler zu töten bereit sind, um ihr kleines Fleckchen Erde zu verteidigen. Schreckliche Zeiten , hat Stella Hastings gesagt.
«Glauben Sie wirklich, dass Archie und Hugh ermordet wurden, damit sie nicht die Wahrheit erzählen?»
«Ich weiß es nicht», sagt Nelson erschöpft. «Ich habe langsam das Gefühl, ich weiß überhaupt nichts mehr.»
Doch auf halbem Weg zurück zum Revier bekommt Judy eine SMS. Clough ist gerade von der Obduktion zurück. Archie Whitcliffe hat keinen Schlaganfall erlitten, sondern ist den Erstickungstod gestorben.
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17
Ruth findet den Krach unbeschreiblich. Eigentlich ist er schon weit mehr als bloßer Krach, er ist zu einer weißen Wand aus Schmerz geworden, vor der sich alles nur noch als greller Umriss abhebt, so wie das Stroboskoplicht, das Judys weißes Oberteil in den reinsten Migräneauslöser verwandelt. Musik ist das nicht, soweit Ruth das beurteilen kann, bloß Stampfen und Dröhnen und von Zeit zu Zeit ein ohrenbetäubendes Kreischen. Ihr Kopf ist nur noch der Verstärker des Lärms. Sie kann nicht mehr denken, nicht mehr fühlen, nicht mehr sprechen. Ob sie wohl gleich ohnmächtig wird?
«Klasse, oder?»
Eine junge Polizistin, die mit Judy befreundet ist, hüpft vor ihr herum. Sie tanzt wild, mit hocherhobenen Armen, den Kopf ekstatisch in den Nacken geworfen.
«Klasse», brüllt Ruth zurück, doch die junge Frau tanzt schon wieder weiter und verschwindet in der wirbelnden Menge. Ruth schaut auf die Uhr. Gleich eins. Jetzt darf sie doch hoffentlich bald nach Hause?
Lichter, diesmal in Rot und Grün, winden sich wie Schlangen an den Wänden entlang. Ob man sich so das Capacocha, das Opferritual der Inkas, vorstellen muss? Ohrenbetäubender Lärm, unbegreifliche Laute, eine
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