Gezeitengrab (German Edition)
hat. Mit Ausnahme von Tatjana, die innig mit einem ausgesprochen attraktiven Schwarzen tanzt.
«Was?», fragt Judy.
Ruth wiederholt ihre Frage.
«Ach nein», meint Judy abwesend. «Lass mal.»
Ruth nähert sich Tatjana, die dem Mann inzwischen förmlich am Hals hängt. Er hält sich mit beiden Händen an ihrem Hintern fest.
Ruth versucht, nicht hinzusehen. «Ich glaube, ich gehe bald», sagt sie.
«Du gehst?», wiederholt Tatjana mit geschlossenen Augen.
«Nach Hause. Ich muss nach Kate sehen.»
«Kate?»
Ruth gibt es auf. Sie beschließt, doch nichts mehr zu trinken, und kramt stattdessen ihre goldene Garderobenmarke hervor, um ihren Mantel zu holen. Sie wird Tatjana einfach eine SMS schreiben, dass sie gegangen ist.
Draußen ist es eisig. Der Boden und die parkenden Autos, von denen keines ein Taxi ist, sind mit Raureif überzogen. Ruth beschließt, zum Bahnhof zu laufen und sich dort nach einem Taxi umzusehen. Ihre Füße sind Eisklötze in den ungewohnten High Heels, sie kann nur ganz langsam gehen. Ein paar Jungs rufen ihr etwas hinterher, doch sie zieht den Kopf ein und beachtet sie gar nicht. Wenn sie bloß eine Mütze dabeihätte, Handschuhe und ihre getreuen Gummistiefel.
«Kann ich Sie mitnehmen?»
Ein Wagen hält neben ihr, und sie sieht ein grinsendes Gesicht mit Pferdezähnen. Der Wagen selbst ist ein dunkler, leicht ramponierter Kombi.
«Sind Sie ein Taxi?»
«Klar. Privatunternehmen.»
Einen Moment lang ist Ruth in Versuchung, einfach zu dem zwielichtig grinsenden Kerl ins Auto zu steigen. Da hätte sie es wenigstens warm. Zumindest so lange, bis er sie ermordet.
«Danke», sagt sie und bemüht sich tapfer, schneller zu gehen. «Ich bin noch verabredet.»
Der Wagen schleicht noch ein paar Minuten neben ihr her, dann biegt er ab, und Ruth atmet erleichtert auf. Vor sich sieht sie bereits die tröstlichen Lichter des Bahnhofs. Hier sind zum Glück auch Menschen: ein paar bedröppelte Fußball-Fans, die sich an ihren Bierflaschen festhalten, ein zerstreuter Herr mit Aktentasche und eine Frau mit einem Säugling. Was macht die bloß um zwei Uhr morgens am Bahnhof von King’s Lynn? Ruth versucht, der Frau ein aufmunterndes Lächeln unter Müttern zu schenken, doch die wendet nur den Blick ab und drückt ihr schlafendes Kind fester an sich. Ob Ruth den beiden vielleicht ein Zimmer für die Nacht anbieten soll?
Die Taxifahrer wollen alle nicht zum Salzmoor.
«New Road? Das ist ja am Arsch der Welt.»
«Nee, Mädchen, das ist nicht mehr mein Gebiet.»
Ruth wird immer verzweifelter. Fast überlegt sie schon, wieder nach dem grinsenden Mann mit seinem Privattaxi Ausschau zu halten. Aber schließlich erbarmt sich doch jemand.
«Na, von mir aus», meint ein dicker Mann, der einen Ford Cavalier fährt. «Aber auf Sonntagstarif, klar?»
Es ist ja auch Sonntag, denkt Ruth, als das Taxi durch die leeren Straßen braust. In ein paar Stunden stehen die Ersten auf, gehen zur Kirche, holen sich die Sonntagszeitung. Zum ersten Mal seit längerem denkt sie wieder an ihre Eltern. Für sie ist der Sonntag der wichtigste Tag der Woche: Messe, Gemeinderatssitzung, Bibelgruppe und mittags ein Braten mit allem, was dazugehört. Ruth sieht die beiden vor sich, wie sie in Festtagskleidung die Avery Hill Road entlanggehen und von der Erlösung träumen. Sie muss unbedingt bald einmal wieder mit Kate hinfahren.
Sie erreichen die New Road erstaunlich schnell, quer durch das Moorland; ringsum ist nichts als schwarze Nacht, und irgendwo in der Nähe wispert das Meer im Dunkeln.
«Meine Güte», sagt der Fahrer. «Wieso wohnen Sie denn ausgerechnet hier? Da kriegt man’s ja richtig mit der Angst.»
«Mir gefällt’s», meint Ruth. Und im Stillen denkt sie: Halt die Klappe und fahr mich einfach nach Hause.
«Hat man hier nicht vor einem Jahr das kleine Mädchen gefunden?»
«Ja, ich glaube schon.»
«Na, wenn Sie meinen. Ich würde mich hier draußen fürchten, dass mich die Geister und Gespenster holen.»
Doch Ruth fürchtet sich nicht vor Gespenstern. Sie zahlt dem Taxifahrer seinen Sonntagstarif und schließt ihre Haustür auf. Leise schleicht sie sich nach oben und betrachtet die schlafende Kate. Ihr kleines Gesicht hinter den Stäben des Kinderbettchens sieht ernst und nachdenklich aus. Neben ihr schläft friedlich Shona, das lange Haar auf Ruths Kissen gebreitet. Ruth nimmt sich etwas Bettzeug und geht zurück ins Wohnzimmer. Sie fürchtet sich nicht vor Gespenstern. Sie fürchtet sich vor Clubs,
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