Gezeitengrab (German Edition)
wohl aus ihrem Boot geworden? Father Tom hat ihnen eine Karte der Ostküste Norfolks gezeigt, die übersät war mit kleinen Kreuzen. «Wofür stehen die?», wollte Nelson wissen. «Wracks», hat Father Tom geantwortet. «Davon liegen zahllose die ganze Küste entlang. Eine tückische Strecke, voll gefährlicher Felsen und seichter Sandbänke. Deshalb hatten wir in Broughton auch den Leuchtturm. In manchen Buchten kann man gar nicht anlegen, weil da so viele Wracks im Wasser sind.» Selbst unter Wasser ist einiges los.
Sein Handy klingelt. Es ist Ruth.
«Was gibt’s?»
«Ich glaube, ich hab da was.» Sie klingt aufgeregt. «Kannst du vorbeikommen?»
Nelson wirft einen Blick auf Judy, die verträumt aufs Meer hinausschaut. Wahrscheinlich denkt sie an ihren Verlobten.
«Gut. Ich bin mit Johnson unterwegs. Wir sind in einer halben Stunde da.»
Ruth empfängt sie an der Tür. Zu Nelsons heimlicher Freude hat sie Kate auf dem Arm.
«Hallo, Kleine!», sagt Judy. «Hey, sie hat mich angelächelt!»
Nein, mich, denkt Nelson.
Ruth führt sie ins Wohnzimmer, wo wie immer heillose Unordnung herrscht und jetzt auch noch Kates Spielzeug, ihre Decke und ihr Spielbogen mit Ruths Büchern, Unterlagen und gebrauchten Kaffeetassen um den besten Platz konkurrieren. Auf dem Tisch liegen diverse Kriminalromane ausgebreitet. Totenschädel, Dolche und geisterhafte Hunde grinsen zu ihnen empor.
«Die habe ich bei Amazon gekauft», erklärt Ruth. «Es sind die Bücher von Archies Liste, die er Maria hinterlassen hat.»
«Wozu hast du die denn gekauft?» Aus dem Augenwinkel beobachtet Nelson, wie Kate unter ihrem Spielbogen auf dem Boden herumrollt. Müsste sie nicht langsam anfangen zu krabbeln? Er kann sich an die ganzen monumentalen Ereignisse nicht mehr erinnern, doch Michelle hat alles in Fotoalben dokumentiert, mit Datum des ersten Zahns, Haarlocken und allem Drum und Dran.
«Ich wollte versuchen, den Code zu knacken, und dachte mir, es ist einfacher, wenn ich die Bücher hier habe.»
«Was denn für einen Code?», fragt Judy.
«Weißt du noch, die Reihenfolge, in der Maria die Bücher nach Archies Vorgaben lesen soll? Ich glaube, das ist ein Code. Ich glaube, er wollte ihr damit eine Nachricht schicken.»
«Und du hast ihn geknackt?», fragt Judy mit großen, runden Augen.
«Ich glaube, ja.» Ruth hat die Bücher auf dem Tisch angeordnet, als würde sie eine Patience legen oder einen Zaubertrick vorführen. Judy beugt sich gespannt vor. Auch Nelson löst den Blick mühsam von Kate.
«Passt auf. Zuerst habe ich versucht, die Bücher so anzuordnen, wie Archie das vorgibt. Damit käme Das Böse unter der Sonne als erstes. Aber danach kommen noch zwei Dreier in Folge. Das ergibt keinen Sinn. Und da dachte ich mir: Was, wenn er vielleicht das dritte Wort meint?»
«Das verstehe ich nicht», sagt Judy.
«Nun, das dritte Wort des ersten Titels lautet ‹Wahrheit›.» Ruth verändert die Reihenfolge der Bücher. «Und das dritte Wort des zweiten Titels ist ‹liegt›.»
«‹Wahrheit liegt›», meint Nelson. «Echt tiefsinnig.»
Ruth funkelt ihn an. «Und das dritte Wort des dritten Titels lautet ‹unter›.»
«Jetzt hab ich’s kapiert!», ruft Judy. «‹Wahrheit liegt unter›.»
«Genau! Das zweite Wort des vierten Titels ist ‹vierte›.»
«‹Wahrheit liegt unter vierte›», sagt Nelson. «Was zum Teufel soll denn das heißen?»
«Das dritte Wort des fünften Titels lautet ‹Stufen›. Das dritte Wort des sechsten lautet ‹der›. Das vierte Wort des siebten Titels ist ‹See› und das dritte Wort des achten Titels ‹Kerze›. ‹Wahrheit liegt unter vierte Stufen der See Kerze›.»
Alle schweigen. Kate kräht und gurgelt unter ihrem Laufstuhl. Flint springt auf den Tisch und setzt sich unter lautem Schnurren auf den Sherlock Holmes.
«Was ist denn eine See-Kerze?», fragt Judy.
Nelson hat wieder Father Toms Stimme im Ohr, die durch das staubige Hinterzimmer der Kirche hallt: Eine tückische Strecke, voll gefährlicher Felsen und seichter Sandbänke. Deshalb hatten wir in Broughton auch den Leuchtturm .
«Wahrscheinlich der Leuchtturm», sagt er. «Es muss der Leuchtturm sein. Unter der vierten Stufe des Leuchtturms.»
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21
April
Der Leuchtturm. Ruth blickt aus ihrem Bürofenster über den Hof bis hin zu dem künstlichen See und denkt über den bevorstehenden Ausflug zum Leuchtturm nach. Zweimal musste er bereits wegen schlechter Witterung verschoben werden, jetzt ist er
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