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Gezeitengrab (German Edition)

Gezeitengrab (German Edition)

Titel: Gezeitengrab (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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Küstenort ein Stück hinter Broughton. Dort gibt es noch eine Anlegestelle und eine Treppe, die zum Strand hinunterführt. Das Polizeiboot wird von Yarmouth kommen und sie in zehn Minuten zum Leuchtturm befördern. Als Ruth um die letzte Kurve biegt, erblickt sie den Leuchtturm, der sich schroff über dem grauen Meer erhebt. Fast hat sie den Eindruck, als wanderte aus den hohen Fenstern ein Lichtstrahl über das Wasser. Aber das kann nicht sein: Das Leuchtfeuer wurde schon vor Jahren entfernt. Wahrscheinlich eine zufällige Spiegelung. Trotzdem ist Ruth unbehaglich zumute. Warum wollte sie eigentlich unbedingt mit auf diesen Einsatz?
    Oben an der Treppe wartet Nelson auf sie, gemeinsam mit einem Mann, der eine Art Pressluftbohrer dabeihat. Und da steht auch noch jemand Drittes, ein kleiner Mann, der sich aber sehr aufrecht hält und auf den Zehenspitzen wippt, während er aufs Meer hinausschaut. Ist das etwa …? Ja, er ist es. Ruth parkt auf der Wiese oberhalb der Felsen, wo bereits Nelsons Mercedes steht und daneben ein altmodischer Jaguar, der aussieht wie jahrelang in Aspik konserviert. Klar, dass Jack Hastings nur britische Fabrikate kauft.
    «Ruth! Da bist du ja endlich!» Nelson schafft es, den Eindruck zu erwecken, dass sie viel zu spät ist; dabei ist es gerade mal zwanzig nach.
    «Hallo, Nelson. Hallo, Mr. Hastings.»
    «Bitte sagen Sie doch Jack.» Hastings trägt einen gelben Südwester und gibt sich betont jovial. «Ein guter Tag für eine kleine Bootsfahrt», sagt er und geht als Erster die Holztreppe hinunter. Das Boot wartet schon an der Anlegestelle. Es ist sehr viel kleiner, als Ruth erwartet hat.
    «Stell dir vor, der Leuchtturm gehört Mr. Hastings», sagt Nelson. «Mit allem Drum und Dran.»
    «Die einzige Möglichkeit, ihn vor dem Abriss zu bewahren», erklärt Hastings. «Das konnte ich nicht zulassen. Er ist schließlich Teil unseres maritimen Kulturerbes. Aber so was interessiert die Regierung natürlich nicht.»
    «Und was haben Sie damit vor?», fragt Ruth. Sie meint, irgendwo gelesen zu haben, dass stillgelegte Leuchttürme oft Museen oder sogar Hotels beherbergen.
    «Was ich damit vorhabe?» Hastings sieht sie an. «Gar nichts. Er ist doch perfekt, so wie er ist.»
    Ruth betrachtet den schlanken steinernen Turm, der fast mit den Felsen ringsum zu verschmelzen scheint, und glaubt zu begreifen, was Jack Hastings meint. Während sie noch hinschaut, spiegelt sich erneut die Sonne in den oberen Fenstern: zwei Lichtblitze, fast wie ein Signal.
    Wie viel Nelson Jack Hastings wohl von den Hintergründen des heutigen Ausflugs erzählt hat? Ruth überlegt noch, wie sie das herausfinden kann, da sagt Nelson ziemlich herablassend: «Ich habe Mr. Hastings von deiner Theorie über den Leuchtturm erzählt.»
    Ruth registriert die Formulierung deine Theorie . Im Klartext: Wenn sich die Sache als Zeitverschwendung herausstellt, ist Ruth daran schuld.
    «Ist doch ein Spaß», ruft Hastings über die Schulter zurück. «Wie in einem Buch von Arthur Ransome.»
    «Wir müssen uns beeilen», sagt Nelson. «Die Flut setzt gleich ein.» Sie müssen warten, bis die Flut ihren Höhepunkt erreicht, weil dann die Felsen unter Wasser sind. Nelson wartet ausgesprochen ungern, und Ruth spart sich den Hinweis, dass sich das Rad der Zeit – und der Gezeiten – sowieso immer weiterdreht, egal, was man tut.
    Ein Seemann, der ein Sweatshirt der Seenotrettung trägt, hält das Boot, während sie an Bord klettern. Es schwankt gefährlich, und Ruth erinnert sich reichlich spät daran, dass sie zwar das Meer liebt, Boote aber eigentlich nicht ausstehen kann.
    Vom Ufer aus wirkt das Meer ganz glatt, doch kaum haben sie sich ein Stück vom Bootssteg entfernt, tauchen plötzlich wie aus dem Nichts hohe Wellen auf, durch die sich das kleine Boot vorankämpfen muss. Ruths Magen schaukelt zur Gesellschaft mit. O Gott, hoffentlich kotzt sie Nelson jetzt nicht auf die Füße! Hastings hingegen hält sich mit einer Hand am Bootsrand fest und scheint die Fahrt sichtlich zu genießen.
    «Das ist ein Spaß, was?», ruft er über das Motorengeräusch hinweg.
    Eine Welle überspült den Bug, und Ruth duckt sich unwillkürlich unter die kleine Glaskabine. Was soll aus Kate werden, wenn sie ertrinkt? Sie muss unbedingt ein Testament machen.
    Sie nähern sich dem Leuchtturm. Aus dieser kurzen Entfernung wirkt er verfallener, Rosttränen rinnen an den Außenmauern herab. Die Felsen erschweren das Anlegen, das Polizeiboot schaukelt hin und

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