Gezeitengrab (German Edition)
Frau hat immerhin die Beerdigung, ein Grab, das sie besuchen kann, den offiziellen Status einer Witwe, die entsprechenden Beileidsbekundungen. Clara hingegen hat gar nichts.
«Hast du Lust auf einen Kaffee?», fragt Ruth, als Clara in ihr Büro kommt. «Wir könnten in die Cafeteria gehen, aber hier gibt es auch einen Kaffeeautomaten, der ganz in Ordnung ist.»
«Automat klingt toll», sagt Clara. «Ich wollte gerade ein paar von Dieters Büchern in die Bibliothek zurückbringen.» Sie legt den Bücherstapel auf Ruths Schreibtisch, und Ruth kann nicht widerstehen, nach den Titeln zu schauen. Lauter historische Werke zum Zweiten Weltkrieg und eine Abhandlung über die Datierung von Leichen. Hat Dieter etwa seine eigenen forensischen Forschungen betrieben?
«Wie geht es dir denn?», fragt Ruth. «Das muss ja eine schreckliche Zeit für dich sein.»
Clara zuckt die Achseln. «Es ging mir schon mal besser. Ich weiß, es ist blöd, ich kannte ihn ja erst seit ein paar Wochen, aber ich habe ihn wirklich geliebt. Und der Gedanke, dass ihn jemand getötet hat … auf diese Weise …» Sie schlägt eine Hand vor den Mund.
«Das muss wirklich schrecklich sein», wiederholt Ruth hilflos. Clara kramt in ihrer Tasche nach einem Taschentuch, und Ruth nutzt die Gelegenheit und flüchtet zum Kaffeeautomaten. Clara braucht jetzt sicher ein paar Minuten für sich.
Als sie mit zwei dampfenden Tassen Pseudo-Kaffee wiederkommt, ist Clara schon wieder gefasster. Sie erzählt Ruth ganz ruhig, dass Dieters Frau seine Leiche mit zurück nach Deutschland genommen habe. «Ich bin ihr nicht begegnet», sagt sie. «Und ich glaube auch, sie weiß nichts von mir.»
Wusstest du denn von ihr?, fragt sich Ruth, schweigt aber.
«Das Schlimmste ist», erzählt Clara weiter, «dass ich so gar nichts zu tun habe. Ich habe keine Stelle. Ich studiere nicht mehr. Meine Freunde sind alle längst weggezogen. Ich verbringe den Tag damit, mit den Hunden spazieren zu gehen, mit meiner Großmutter zu plaudern und meiner Mutter in der Küche im Weg zu stehen. Es ist, als wäre ich wieder fünfzehn.»
Fünfzehn – das bringt Ruth auf einen Gedanken. Was machen Teenager, um sich die Zeit zu vertreiben? Sie nehmen alle möglichen Jobs an. Autos waschen, Zeitungen austragen … Und hat Clara nicht selbst einmal was von Babysitten gesagt?
«O ja, gerne!» Clara sieht gleich fröhlicher aus. «Ich habe Samstagnachmittag nichts vor. Ich würde liebend gern auf Kate aufpassen.»
«Ich bin auch bestimmt nicht lange weg», sagt Ruth. «Nelson meint, das Boot geht um halb drei. Spätestens um fünf bin ich wieder zu Hause.»
«Ein Boot?»
«Ja. Wir fahren zum Leuchtturm. Das alles zu erklären führt jetzt zu weit, aber es hat mit den Toten zu tun, die wir unter dem Felsen gefunden haben.»
«Der Leuchtturm?», meint Clara. «Ich glaube, der gehört meinem Vater.»
Doch als dann Samstag ist, entscheidet sich Ruth fast noch einmal um. Das Meer ist ruhig, der Himmel aber trüb und bewölkt. Schnee ist vorhergesagt, und über den Horizont zieht sich ein drohender gelblicher Streifen. Aber Punkt halb zwei ist Clara vor der Tür, voller Tatendrang für einen tollen Nachmittag mit Kate, und Ruth bleibt nichts anderes übrig, als ihren Anorak anzuziehen und zum Wagen zu gehen. Clara steht mit Kate auf dem Arm am Fenster und winkt, und einen Augenblick lang verspürt Ruth den überwältigenden Drang, wieder ins Haus zu rennen, ihr Baby an sich zu reißen und es nie, nie wieder loszulassen. Aber dann sagt sie sich, dass sie solche Anwandlungen in leichterer Form auch immer hat, wenn sie Kate zu Sandra bringt. Wenn sie jedem irrationalen mütterlichen Impuls nachgäbe, könnte sie gar nicht mehr aus dem Haus gehen.
Langsam fährt sie die Küstenstraße entlang. Im Frühjahr sieht man hier sonst häufig Grüppchen von Vogelbeobachtern, die mit ihren Ferngläsern in der Hand durchs windgepeitschte Gras stapfen, in der Hoffnung, einen Grünschenkel oder eine Pfuhlschnepfe zu erspähen. Doch heute ist das Salzmoor wie ausgestorben. Es liegt Spannung in der Luft, fast eine Art Erwartung. Das grünlich graue Schilf hebt sich gestochen scharf vor dem bleichen Himmel ab, ein Schwarm Schnepfen flattert im Zickzack dicht über die Straße, und im Graben schimmern dunkel und drohend Wasserpfützen. Ruth schaltet das Radio ein. Gegen das Gefühl dräuenden Unheils gibt es kein besseres Mittel als eine politische Diskussionsrunde.
Sie ist mit Nelson in Wyncham verabredet, dem
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