Gezeitengrab (German Edition)
für Samstag angesetzt.
«Komm doch mit», hat Nelson am Telefon gesagt. «Es ist schließlich Wochenende.» Wie kann er das so beiläufig sagen? Ist ihm denn nicht klar, dass Ruth im Kate-Gefängnis sitzt, gerade weil Wochenende ist? Natürlich nicht. Michelle hat sich ja immer um die Kinder gekümmert, und Nelson konnte tun und lassen, was er wollte. Ruth stellt sich vor, wie er am Wochenende Fußball oder Golf spielt und einen trinken geht, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was mit seinen Kindern ist. Aber seine Töchter – seine anderen Töchter – sind inzwischen ja auch erwachsen. Michelle und er können sogar alleine in Urlaub fahren. Nelson scheint zwar keine große Vorliebe für Urlaube zu haben, aber das ist sein Problem. Tatsache bleibt, er hat die Verantwortung des Elternseins soeben hinter sich, und für Ruth fängt sie gerade erst an. In schlappen achtzehn Jahren, muntert sie sich sarkastisch auf, kann ich dann auch wieder samstags weg.
Dabei will sie unbedingt mit zum Leuchtturm. Schließlich beruht das Ganze auf ihrer Eingebung. Sie hat den Code geknackt, und jetzt muss sie zu Hause sitzen, während Judy oder Clough ins Polizeiboot steigen und die baufälligen Stufen erklimmen dürfen, um darunter … ja, was zu finden? Glaubt sie ernsthaft, dass unter der vierten Treppenstufe des Leuchtturms von Broughton Sea’s End etwas verborgen liegt? Was sollte das denn sein? Die Wahrheit, wenn man der codierten Botschaft glaubt, doch als Archäologin weiß Ruth nur zu gut, dass Wahrheit im Lauf der Jahre zu einer durchaus flüchtigen Größe werden kann. Ob es ein Geständnis ist? Ein Foto? Ein weiterer rätselhafter Hinweis? Vielleicht hat Archie ja eine ganze Serie von Hinweisen versteckt, mit denen er sie kreuz und quer durch die Gegend hetzt und Akronyme und Akrosticha entschlüsseln lässt, während sich der wahre Mörder klammheimlich aus dem Staub macht.
Ruth denkt an den Leuchtturm. Er ist ein echtes Wahrzeichen der Küste Nord-Norfolks, auf zahllosen Postkarten und Andenken verewigt. Manchmal scheint der hohe rot-weiße Turm auf seinem Felsen geradewegs aus dem Meer hervorzuwachsen. Die Bilder zeigen ihn an einem Herbstmorgen inmitten von Nebelschwaden, fast versteckt hinter der donnernden Brandung beim winterlichen Sturm oder im Hochsommer, wenn er sich im ruhigen Wasser spiegelt. Er steht nur wenige hundert Meter vom Festland entfernt, ist aber von Felsen umgeben, sodass man ihn nur bei Windstille erreichen kann. Aus diesem Grund ist er auch stillgelegt. Und natürlich, weil die meisten Schiffe inzwischen über satellitengesteuerte Navigationsgeräte verfügen und man keine malerisch gelegenen Leuchttürme mehr braucht.
Seufzend versucht Ruth, sich wieder auf die Seminararbeiten zu konzentrieren, die sie korrigieren muss. Sie weiß, dass sie sich aufführt wie ein trotziges Kind, das schmollt, weil es nicht zum Ausflug mit kann. Aber dieses Wissen macht es auch nicht leichter. Sie will zum Leuchtturm, aber Sandra ist übers Wochenende verreist, und Shona verbringt den Samstag mit Phil und seinen Söhnen, und sonst gibt es niemanden, der auf Kate aufpassen könnte. Tatjana ist am Samstag mit den Kollegen von der University of East Anglia unterwegs, aber es würde Ruth auch nicht im Traum einfallen, sie zu bitten, als Babysitter einzuspringen. Nein, sie wird eine gute Mutter sein und daheimbleiben. Vielleicht kann sie ja einen Kuchen backen oder so was.
Wieder schaut sie aus dem Fenster und denkt an den Tag zurück, als sie Clara und Dieter eng umschlungen im Schneegestöber stehen sah. Da kommt, wie von der Erinnerung herbeigerufen, eine blonde junge Frau mit einem Stapel Bücher im Arm über den Hof. Es ist Clara. Ohne lange nachzudenken, klopft Ruth an die Scheibe. Clara sieht zu ihr herauf und lächelt. Ruth winkt sie herein. Sie kann eine Pause brauchen, etwas Gesellschaft, einen Kaffee. Vielleicht denkt sie dann nicht mehr so viel an Leuchttürme, unlösbare Codes und Frühstücksfernsehen am Samstagmorgen.
Clara sieht verfroren und unglücklich aus. Sie trägt eine abgetragene Wachsjacke, die sichtlich schon etliche Jahre Hundespaziergänge hinter sich hat, ihr Haar ist strähnig und ein wenig fettig, und sie ist sehr blass. Ruth verspürt eine Welle von Mitgefühl. Sie hat kaum einen Gedanken daran verschwendet, wie Clara sich wohl fühlt, nachdem sie ihren Geliebten nicht nur verloren hat, sondern auch feststellen musste, dass sie ihn eigentlich nie besaß. Dieters
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