Gezeitengrab (German Edition)
her, Wasser schwappt über die Reling. Ruth beißt die Zähne zusammen. Doch schließlich gelingt es dem Skipper, sie nah genug heranzubringen, dass sein Maat an Land springen kann. Er vertäut das Boot an dem kleinen Landungssteg und hält Ruth dann die Hand hin, um ihr herauszuhelfen. Sie stellt einen Fuß auf den Rand des wild schwankenden Bootes und betet innerlich, dass sie nicht ausrutscht. Zum Glück hat sie Turnschuhe angezogen. Mit einem unbeholfenen Sprung schafft sie es auf die Felsen. Es ist himmlisch, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Nelson springt leichtfüßig hinterher, er ist erstaunlich gelenkig für einen Mann seiner Statur. Doch Hastings stolpert und fällt fast hin.
«Vorsicht», ruft der Maat gut gelaunt. «Wenn Sie da reinfallen, kriegen wir Sie bestimmt nicht mehr rausgefischt.»
Vom Bootssteg aus führt eine Eisenleiter zum Leuchtturm hinauf. Ob das die Stufen sind, die der Code meint? Skeptisch mustert Ruth die rostigen Metallsprossen. Wie soll denn darunter etwas versteckt sein?
Doch Nelson hält sich nicht lange auf. Behände klettert er die Leiter hoch und ist bald außer Sichtweite. Ruth folgt ihm langsamer. Hinter sich hört sie Hastings keuchen. Als Letzter kommt der dritte Mann, der mit seinem schweren Bohrer zu kämpfen hat.
Schließlich stehen sie direkt vor dem Leuchtturm, und Ruth sieht, dass es noch mehr Stufen gibt, schwere Betonstufen, die zur verbarrikadierten Eingangstür führen. Eine Zeitlang stehen sie alle nur schweigend da. Von den umliegenden Felsen dringt das klagende Kreischen der Möwen herüber. Ruth muss an die vielen Geschichten von Leuchtturmwärtern denken, die von der Einsamkeit und dem schroffen Klima in den Wahnsinn getrieben wurden. Obwohl sie gar nicht weit vom Festland sind, ist die Küste doch verschwommen und nebelverhangen. Man kann sich ohne weiteres vorstellen, kilometerweit von der Welt entfernt zu sein.
Es sind neun Stufen. «Hast du irgendeine Ahnung, ob es die vierte Stufe von unten ist oder die vierte von oben?», fragt Nelson leicht spöttisch.
Ruth schüttelt den Kopf und zieht ihren Anorak fester um sich. Hier ist es noch um einiges kälter.
«Versuchen wir’s mit der vierten von unten», sagt Nelson. «Wir müssen uns beeilen, bevor das Wetter schlechter wird. Ran an den Speck, Charlie.»
Der Mann setzt Ohrenschützer gegen den Lärm auf und richtet den Pressluftbohrer auf die vierte Stufe. Der Krach ist ohrenbetäubend. Staub wirbelt durch die Luft, und die Möwen stieben mit empörtem Krächzen davon.
Der Beton hält nicht lange stand, und Nelson verliert keine weitere Zeit. Er kniet sich hin und räumt den Schutt mit bloßen Händen beiseite.
«Siehst du was?», ruft Ruth.
«Ich glaube … ja, da ist eine Schachtel.» Er beugt sich über die Öffnung.
«Warte!» Ruths archäologische Instinkte rebellieren. «Das kannst du doch nicht machen! Wir müssen den Fund erst dokumentieren, genau aufzeichnen, wo er liegt.»
Nelson beachtet sie gar nicht. Er greift in das Loch und richtet sich dann wieder auf, eine Art Stahlbehälter von der Größe eines Schuhkartons in der Hand. Die Kiste hat die Zeit im Boden offenbar unbeschadet überstanden: Das Metall glänzt matt im fahlen Sonnenlicht.
«Was ist das?», fragt Ruth.
«Sieht aus wie ein Radiogehäuse», meint Hastings. «Ich habe so was schon mal gesehen. Man nannte die Dinger auch Notradios. Das Gehäuse ist aus rostfreiem Stahl. Mein Vater hatte eines, im Krieg.»
Zu Ruths Entsetzen schüttelt Nelson den Behälter.
«Da ist was drin», verkündet er.
«Gibt es einen Schlüssel?», fragt Hastings.
«Ich werd doch hier jetzt nicht ewig nach einem Schlüssel suchen», sagt Nelson. Er stellt die Schachtel auf den Boden, greift nach dem Pressluftbohrer und richtet ihn auf den Deckel.
«Nicht!», schreit Ruth. «Nachher beschädigst du noch den Inhalt. Und außerdem musst du Handschuhe anziehen.»
Nelson wirft ihr einen düsteren Blick zu, legt den Bohrer aber beiseite und bittet Charlie, ihm seine Schutzhandschuhe zu leihen. Dann greift er nach dem Deckel. Und öffnet ihn.
«Ich fass es nicht», ruft Hastings. «Die war ja nicht mal verschlossen!»
Ruth beugt sich vor, als Nelson den Gegenstand darin herausholt. Er ist schwarz und rund und sieht aus wie ein kleinformatiges Lenkrad.
«Was ist denn das?», fragt Ruth.
Und wieder antwortet Hastings.
«Ein Schmalfilm», sagt er.
Jack Hastings lädt sie ein, den Film bei ihm im Haus anzuschauen. Er besitzt
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