Gezeitengrab (German Edition)
werde den Krieg niemals gewinnen. Von Kronig lächelte und erwiderte, seiner Ansicht nach hätten sie bereits gewonnen. Da hat Sergeant Austin ihn erschossen.
Er war sofort tot. Sergeant Austin ist ein hervorragender Schütze. Die anderen Deutschen protestierten lauthals, doch Captain Hastings richtete seine Waffe auf sie und befahl ihnen zu schweigen. Dann gab er seine Waffe an Corporal Hoffmann weiter und befahl ihm, die Männer zu bewachen und uns zu sagen, worüber sie sprachen – Corporal Hoffmann ist gebürtiger Deutscher. Uns andere führte er nach draußen und erklärte uns, wir müssten nun auch die übrigen Männer töten. Sie würden sonst die Behörden über den Mord an ihrem Hauptmann in Kenntnis setzen, und wir müssten Sergeant Austin schützen. Außerdem befänden wir uns im Krieg, und diese Männer seien der Feind. Wir müssten sie erschießen und ihre Leichen vergraben. Ich protestierte, doch Captain Hastings verbot mir den Mund. Danny versuchte, mir beizuspringen, doch Donald erklärte, das seien doch nur dreckige Nazis, die mit uns auch nicht anders umspringen würden. Und so gab ich schließlich nach, was ich bis heute zutiefst bereue.
Wir führten die vier Männer, die selbständig gehen konnten, nach draußen. Vier von uns hielten sie fest, ihre Hände waren immer noch auf dem Rücken gefesselt. Glücklicherweise hatten sie keine Ahnung, was ihnen bevorstand. Dann trat Captain Hastings hinter sie, schoss jedem Einzelnen in den Nacken und ging dann wieder hinein, um den Verletzten zu erschießen. Keiner von uns sagte ein Wort. Es war sehr stürmisch, und ich glaube, niemand hat die Schüsse gehört. Sea’s End House liegt sehr einsam. Einer der Männer betete zu Gott, bevor er starb. Das ist mir in Erinnerung geblieben, und so gab ich ihm später meinen Rosenkranz in die Hand.
Captain Hastings befahl uns, die Männer hinunter an den Strand zu bringen und dort zu begraben. Unter den Felsen ist eine Höhle, die nur bei Ebbe zu erreichen ist. Archie, Danny und ich trugen jeder einen der Toten. Die anderen wurden auf einem Stück Segeltuch transportiert, aus dem wir zuvor noch Schießwolle gemacht hatten. Das Boot verbrannten wir auf dem Wasser. Inzwischen dämmerte es schon, und ich werde nie vergessen, wie an diesem Morgen die Sonne aufging und mir klarwurde, dass ich ein Mörder bin. Archie und mir fiel die Aufgabe zu, das Grab wieder zuzuschaufeln, und dabei habe ich dem deutschen Soldaten meinen Rosenkranz in die Hand gesteckt. Gott steh mir bei, ich habe seither nicht einen einzigen Rosenkranz mehr gebetet.
Gegen sechs Uhr morgens kehrten wir in die Laube zurück. Captain Hastings nahm sein Messer und schnitt jedem von uns in die Hand. Nacheinander drückten wir unsere Hände zusammen, bis unser Blut sich mischte, und wir schworen uns, keinem Menschen je zu verraten, was geschehen war. Dann gingen wir ins Haus, und Mrs. Hastings bereitete uns das Frühstück.»
Hugh Anselm holt tief Luft und schiebt erneut seine Brille hoch. Wie jung er aussieht, denkt Ruth. Achtzehn? Neunzehn?
«Private Whitcliffe und ich werden unseren Schwur ehren», fährt er fort, «aber wir sind beide der Ansicht, dass die Wahrheit eines Tages bekannt werden muss. Wir haben nur einer weiteren Person von diesem Film erzählt. Der Letzte von uns, der noch lebt, wird die nötigen Instruktionen hinterlassen, wo das Beweismaterial zu finden ist. Mir bleibt nur zu sagen: Der Herr erbarme sich unser.»
Dann bricht der Film unvermittelt ab.
Jack Hastings findet als Erster die Sprache wieder. «Mein Bruder Tony hat die Schüsse gehört», sagt er. «Er hat mir davon erzählt. Er meinte, er hätte Schüsse gehört und dunkle Gestalten im Garten gesehen. Menschen, die Leichen trugen. Ich habe ihm kein Wort geglaubt. Er kann damals höchstens drei gewesen sein.»
Ruth stellt sich den kleinen Jungen vor, der am Kinderzimmerfenster steht, die Gestalten im Dunkeln sieht, die schweren Tritte der Stiefel auf dem Pfad hört und das unterdrückte Fluchen und schließlich die Flammen des brennenden Bootes.
«Wir waren immer überzeugt, dass es in der Laube spukt», erzählt Hastings weiter. «Mutter ließ uns dort nicht hingehen, weil sie so nah am Abhang stand.»
«Werden Sie Ihrer Mutter davon erzählen?» Nelson deutet mit dem Kopf auf die weiße Leinwand.
Hastings macht ein sorgenvolles Gesicht. «Ich weiß es nicht. Sie hat sicher ein Recht, es zu erfahren, aber sie hat meinen Vater so vergöttert. Das wäre ihr Tod. Sie
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