Gezeitengrab (German Edition)
noch einen alten Projektor. «Ich mag alte Sechzehn-Millimeter-Filme, das ist so eine Art Hobby. Natürlich können Sie ihn auch auf DVD überspielen, aber das nimmt doch sehr viel Zeit in Anspruch.»
Nelson zögert. Er weiß, er sollte den Film gleich aufs Revier bringen und ihn dort digitalisieren lassen, doch die Begeisterung über den Fund macht ihn leichtsinnig. Keine Sekunde länger kann er es aushalten, ohne zu wissen, was auf diesem Film, der so sorgfältig versteckt und mit so schlauen Hinweisen versehen wurde, zu sehen ist. Fast ist es, als triebe ihn Archie Whitcliffe höchstpersönlich an und beglückwünschte ihn – na gut: Ruth – dazu, den Code geknackt zu haben und den Hinweisen von den verstaubten Taschenbüchern bis zu den Stufen des Leuchtturms gefolgt zu sein. Wer hat den Film wohl dort versteckt? Archie? Oder Hugh, der bei der Wasserrettung war?
«Gut möglich, dass der Film beschädigt ist», sagt er. «Aber wir können es ja versuchen.»
«Das ist die richtige Einstellung!», meint Hastings.
Sie stehen auf dem Felsen neben ihren Autos. Das Boot ist schon wieder nach Yarmouth zurückgetuckert. Der Himmel hat immer noch dieselbe gelblich weiße Farbe. Es ist vier Uhr.
«Kommen Sie auch mit, Doktor Galloway?», fragt Hastings zuvorkommend.
Ruth zögert. «Ich muss allmählich zurück.»
«Ach, Clara hat sicher nichts dagegen, ein bisschen länger zu bleiben», sagt Hastings. «Rufen Sie sie doch an.»
Ruth ruft Clara an, und die erklärt, sie könne gerne noch ein, zwei Stunden länger bleiben. «Wir haben es richtig nett. Wir haben ganz viele Türme gebaut, Musik gehört und mit Fingerfarben gemalt.» Ruth kommt sich unzulänglich vor. Sie hat noch nie mit Kate gemalt. Und sie registriert auch, dass Clara mit Kate Musik hört, anstatt einfach den Fernseher einzuschalten und die Teletubbies laufen zu lassen. Clara kann offensichtlich viel besser mit Babys umgehen als Ruth.
Im Konvoi fahren sie zurück nach Sea’s End House. Als sie an der Einfahrt ankommen, fängt es an zu schneien.
«Ich sollte wirklich fahren», sagt Ruth.
«Ach, das bleibt doch nicht liegen», meint Hastings leichthin. «Was das Wetter angeht, irre ich mich nie.»
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22
Der Projektor steht in Hastings’ Arbeitszimmer, einem Raum voller Bücher, in dem rissige Polstermöbel aus Leder und zwei große Hundekörbe stehen. Ein Feuer flackert im Kamin, und es ist um einiges gemütlicher als der eisige Salon. Ruth stellt sich vor den Kamin, um sich die Hände zu wärmen. Es riecht nach Hunden und nach Holzfeuer. Hastings zieht die roten Samtvorhänge vor und macht sich an dem Projektor zu schaffen, der genau so aussieht, wie man es aus alten Filmen kennt: zwei Spulen, zwischen denen sich das Zelluloid spannt. Vor den Bücherregalen wird eine große Leinwand herabgelassen, und Stella Hastings bringt Tee und Kekse herein.
«Hat man so ein Wetter im April jemals erlebt?», sagt sie.
«Glauben Sie, es wird noch schlimmer?», fragt Ruth besorgt. Es ist viel zu warm und urgemütlich in diesem Zimmer. Sie kann sich durchaus vorstellen, sich auf eines der Sofas zu kuscheln und nie mehr aufzustehen. Aber sie muss doch nach Hause zu Kate.
«Nein, das vergeht schon wieder», beruhigt Stella sie und zieht sich wieder zurück.
Der Projektor surrt, und über die Leinwand flackern Kreise mit Nummern darin. 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2. Dann erscheint, so plötzlich, dass man fast erschrickt, ein Gesicht. Ein dunkelhaariger junger Mann mit einer kleinen, runden Brille.
«Was ich zu sagen habe», deklamiert er, «ist die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.»
Er trägt eine Uniform. Ruth kennt sich nicht gut mit Uniformen aus, doch sie sieht die stilisierten Flügel über der Brusttasche. Die Royal Air Force? Der Mann sitzt dicht vor der Kamera und wirkt nervös. Hin und wieder wandert sein Blick besorgt zum Kameramann, der nicht im Bild ist. Und einmal schwenkt die Kamera langsam durch den Raum, zeigt ein verdunkeltes Fenster, eine Pinnwand und eine zusammengerollte britische Flagge.
«Wissen Sie, wo das ist?», will Nelson von Hastings wissen.
«Ich bin mir nicht sicher. Es könnte die alte Pfadfinderhütte sein. Da hat sich die Home Guard immer getroffen.»
«Mein Name ist Hugh P. Anselm», sagt der Mann auf der Leinwand und schiebt sich die Brille auf der Nase nach oben. «Ich bin Leutnant bei der Royal Air Force. Bis vor kurzem war ich Mitglied der Home Guard von Broughton Sea’s
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