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Gezeitengrab (German Edition)

Gezeitengrab (German Edition)

Titel: Gezeitengrab (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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kann.»
    «Gut. Aber du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Echt nicht.»
    Nach dem Gespräch fühlt Ruth sich etwas besser, doch ihr Atem geht immer noch schneller als normal. Es kommt ihr vor, als wäre sie nach wie vor über eine Nabelschnur mit Kate verbunden. Für einen kurzen Zeitraum kann sie ihr Baby allein lassen, aber nach ein paar Stunden gerät sie in Panik. Es ist schon kaum auszuhalten, wenn sie nach der Arbeit durch die Straßen von King’s Lynn rast, um so schnell wie möglich ihr Gesicht an Kates Hals zu drücken und diesen wunderbaren Babyduft zu riechen. Doch jetzt, wo sie kilometerweit von ihr entfernt festsitzt, fühlt sich Ruth, als müsste sie entzweibrechen, so heftig zieht es sie an unsichtbaren Fäden zu ihrer Tochter.
    Nelson kommt zurück. «Es schneit schon wieder. Bei dem Wetter kann der Hubschrauber nicht starten.» Ruth hat eigentlich gedacht, das mit dem Hubschrauber wäre ein Witz. «Wir müssen wohl noch ein bisschen abwarten, Süße.»
    Süße. Das hat er jetzt schon zum zweiten Mal gesagt.
    «Bitte bleiben Sie doch bei uns», sagt Stella Hastings. «Wir machen uns ein schönes Abendessen, und ich richte Ihnen das Gästezimmer her, Inspector. Ruth, Sie haben doch sicher nichts dagegen, in Claras Zimmer zu schlafen?»
    «Nein», sagt Ruth. «Aber es hört ja vielleicht doch noch auf zu schneien.»
    Hastings kommt in die Küche zurück und schüttelt den Schnee von seiner Tweedkappe. «Das ist wohl leider nicht sehr wahrscheinlich. Inzwischen schneit es richtig stark. Ich bin vor bis zur Küstenstraße gegangen, und der Laster steckt unwiderruflich fest. War ja klar, dass so was irgendwann passieren wird. Ich habe die Behörden immer wieder davor gewarnt.»

    Es wird ein seltsamer, surrealer Abend. Trotz aller Versicherungen von Clara – Kate schläft, es geht ihr gut, es geht ihnen beiden bestens – bleibt Ruth nervös und angespannt. Außerdem bekommt sie die Ereignisse des Tages nicht aus dem Kopf: die Bootsfahrt, die Entdeckung der versteckten Schachtel und schließlich den Film. Beim Abendessen – ein blank polierter Esstisch, flackernde Kerzen und jede Menge Porzellan und Tafelsilber – sieht sie immer wieder Hugh Anselms Gesicht, hört seine Stimme, diesen Ton eines altklugen Teenagers. Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist nicht sonderlich erbaulich … dann entstand eine Meinungsverschiedenheit … so gab ich schließlich nach, was ich bis heute zutiefst bereue. Doch was er erzählte, war keine Teenager-Geschichte. Dieser Mann war vor eine schreckliche Entscheidung gestellt und gezwungen worden, unerträgliche Schuld auf sich zu laden – und das alles mit nicht einmal zwanzig Jahren. Wie mag Hugh Anselms Leben danach verlaufen sein? Warum hat er schließlich doch noch beschlossen, seinen Schwur zu brechen? Warum hat er an Dieter Eckhart geschrieben? An Dieter, der jetzt ebenfalls tot ist.
    Jack Hastings hingegen, der gerade erfahren musste, dass sein Vater kaltblütig fünf Menschen ermordet hat, wirkt nicht weiter erschüttert. Vorhin im Arbeitszimmer sah er aus wie ein gebrochener Mann, doch jetzt ist er der Inbegriff des herzlichen Gastgebers, schenkt Wein nach und erzählt lustige kleine Familienanekdoten. Irene, seine Mutter, lächelt versonnen im Halbdunkel. Ob sie etwas weiß? Etwas vermutet?
    Trotz all der emotionalen Verwerfungen hat der Abend fast etwas Magisches an sich. Das elegante Esszimmer, das Kerzenlicht und die Gewissheit, dass es draußen immer noch schneit, wirken zusammen und geben dem Grüppchen um den Esstisch das Gefühl, weit weg zu sein vom Rest der Welt. Als wären sie durch die Zeit gereist, denkt Ruth. Ob es wohl 2009 oder 1940 sein wird, wenn sie irgendwann doch von diesem Tisch aufstehen und die Tür zur weißen Landschaft draußen wieder öffnen? Vielleicht ist es ja auch 1840, und draußen graben sich Kutschenräder durch den Schnee? Vielleicht käme das warnende Lichtsignal vom Leuchtturm, dreimal kurz, zweimal lang? Und Buster Hastings ginge mit gezückter Waffe den Steilpfad zum Meer hinunter.
    Und wenn Ruth ganz ehrlich ist, gefällt es ihr auch, mit Nelson hier zu sein. So, wie sie jetzt am Tisch sitzen – Jack und Stella, Ruth und Nelson –, ist es fast, als wären sie ein Paar. Ruth war noch nie mit Nelson beim Abendessen, und vermutlich wird das auch nie wieder vorkommen. Und so freut sie sich daran, ihn über den Tisch hinweg anzusehen, freut sich, dass sie eine gemeinsame Geschichte zu erzählen haben

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