Gezinkt
Flur entgegenkam, bekleidet mit seiner üblichen Siebzehnjährigenuniform: Ohrringe, Schlabber-T-Shirt und eine Hose, die so tief saß, dass es aussah, als würde sie jeden Moment herunterfallen. Und das Haar: Mit Gel zu Spitzen geformt und schreiend gelb gefärbt. Trotzdem war Billy ein überdurchschnittlich guter Schüler und ähnelte in keiner Weise den Unruhestiftern, mit denen Carnegie beruflich zu tun hatte.
»Was tust du denn hier?«, fragte er. Es war Anfang Mai, und eigentlich sollte jetzt Schule sein, oder?
»Heute ist Elternsprechtag, weißt du noch? Mr. Gibson erwartet dich und Mom um zehn Uhr. Ich schau nur vorbei, um sicherzustellen, dass ihr da seid.«
Verdammt... Carnegie hatte den Termin völlig vergessen. Und er hatte eine Konferenzschaltung mit zwei französischen Ermittlern wegen Mullers Überweisung angesetzt – auf neun Uhr fünfundvierzig. Wenn er sie auf später verschob, würden die französischen Beamten wegen der Zeitdifferenz nicht mehr zur Verfügung stehen, und der Anruf würde bis morgen verzögert werden.
»Ich hab es in meinem Kalender stehen«, sagte der Detective geistesabwesend. In seinem Hinterkopf war ein Gedanke aufgeblitzt. Was war es nur gewesen? »Könnte nur sein, dass ich ein bisschen zu spät komme.«
»Dad, es ist wichtig«, sagte Billy.
»Ich werde da sein.«
Dann nahm der Gedanke in seinem Kopf Gestalt an. »Billy, belegst du noch Französisch?«
Sein Sohn blinzelte. »Ja, du hast mein Zeugnis unterschrieben, weißt du noch?«
»Wer ist dein Lehrer?«
»Mrs. Vandell.«
»Ist sie jetzt in der Schule?«
»Ich denke schon. Ja, wahrscheinlich. Wieso?«
»Sie muss mir bei einer Konferenzschaltung helfen. Geh du jetzt nach Hause. Sag deiner Mutter, ich komme zu dem Termin, sobald ich kann.«
Carnegie ließ den Jungen mitten im Flur stehen und trabte zu seinem Büro, so begeistert über seinen Geistesblitz, die Französischlehrerin als Dolmetscherin einzusetzen, dass er beinahe einen Arbeiter über den Haufen gerannt hätte, der sich über eine der Topfpflanzen im Korridor beugte und Blätter stutzte.
»’tschuldigung«, rief er und eilte in sein Büro. Er rief Billys Französischlehrerin an, und als er ihr erklärte, wie wichtig der Fall sei, erklärte sie sich widerstrebend einverstanden, ihm bei der Übersetzung zu helfen. Der Konferenzanruf ging wie geplant vonstatten, und die Übersetzungsbemühungen der Frau erwiesen sich als große Hilfe; ohne seinen Geistesblitz hätte er mit den beiden Beamten überhaupt nicht kommunizieren können. Immerhin berichteten die Ermittler in Frankreich, sie hätten bei Mullers Investments oder Finanzgeschäften nichts Unrechtes festgestellt. Er zahlte Steuern und hatte noch nie Ärger mit der Gendarmerie gehabt.
Carnegie fragte, ob sie sein Telefon angezapft hätten und seine Internet- und Bankaktivitäten überwachten.
Nach einer Pause antwortete einer der Beamten. Billys Französischlehrerin übersetzte: »Sie sagen: ›Wir sind technisch nicht so hochgerüstet wie Sie. Wir fangen Verbrecher lieber auf die althergebrachte Art.‹« Sie erklärten sich aber bereit, ihren Zoll auf Muller aufmerksam zu machen, damit er dessen Gepäck sorgfältig untersuchte, wenn er das nächste Mal ins Land käme.
Carnegie dankte den beiden Männern und der Lehrerin und legte auf.
Wir fangen Verbrecher lieber auf die althergebrachte Art ...
Und deshalb erwischen wir sie, und ihr erwischt sie nicht, dachte der Detective, drehte sich in seinem Sessel herum und begann wieder konzentriert in Big Brothers Computermonitor zu blicken.
Jake Muller kam aus dem Kaufhaus im Zentrum von Annandale und folgte dem jungen Mann, der ihm in der Schmuckabteilung aufgefallen war.
Der Junge hielt den Kopf gesenkt und entfernte sich rasch.
Als sie an einer Gasse vorbeikamen, rannte Muller plötzlich vor, packte den dürren Bengel am Arm und zog ihn ins Halbdunkel.
»Großer Gott«, flüsterte der Junge erschrocken.
Muller drückte ihn an die Wand. »Denk nicht dran, wegzulaufen.« Ein Blick auf die Taschen des Jungen. »Und komm bloß nicht auf andere Gedanken.«
»Nein, ich...«, begann der Junge mit bebender Stimme. »Ich habe keine Waffe oder so was.«
»Wie heißt du?«
»Ich...«
»Der Name!«, bellte Muller.
»Sam. Sam Phillips. Was wollen Sie?«
»Gib mir die Uhr.«
Der Junge seufzte und verdrehte die Augen.
»Gib sie mir. Du willst bestimmt nicht, dass ich sie dir abnehme.« Muller wog fünfzig Pfund mehr als der Bursche.
Der
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