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Gezinkt

Gezinkt

Titel: Gezinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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so?« Sein unsteter Blick kam zur Ruhe, und er betrachtete Lescroix’ makelloses Silberhaar, die schlanke Figur und das kluge, markante Gesicht.
    »Sie wissen wirklich nicht, wer ich bin, oder?« Lescroix, der sich normalerweise über eine solche Verirrung empört hätte, war nicht weiter überrascht. Das war immerhin Hamilton hier, ein County voller Bauerntrampel, dessen gesamte Einwohnerzahl kleiner war als die von Lescroix’ Stadtviertel, der Upper East Side in Manhattan.
    »Ich weiß nur, dass Harry, das is’ heut der Oberaufseher, reingekommen is und gesagt hat, ich soll Regis’n’ Kathie Lee ausschalten und machen, dass ich zu den Besucherzimmern runterkomme. Da wär so’n Anwalt, der mich sehen will, und jetzt sitzen Sie da und sagen, Sie wollen meinen Fall übernehmen, und ich soll Mr. Goodwin rausschmeißen, der wo die ganze Zeit anständig zu mir war.«
    »Tja, sehen Sie, Jerry, soviel ich gehört habe, ist Goodwin halt zu allen anständig. Er ist anständig zum Richter, anständig zur Staatsanwaltschaft und anständig zu den Zeugen der Staatsanwaltschaft. Und deshalb ist er ein sehr schlechter Verteidiger, und Sie sitzen ernsthaft in der Patsche.«
    Pilsett fühlte sich in die Enge getrieben, wie jeder, der mehr als fünf Minuten mit Lescroix zusammensaß. Und so beschloss er, zurückzuschlagen. (Wahrscheinlich genau das, was auch in jener Nacht im Juni passiert war, dachte Lescroix.) »Wer genau sagt denn, dass Sie was taugen? Wie soll ich das wissen?«
    Sollte er ihn mit seinen Erfolgen zu einem Nichts schrumpfen lassen?, überlegte Lescroix. Seine Rolle im ersten Prozess gegen die Menendez-Brüder herunterbeten? Den Freispruch vom Vorwurf des vorsätzlichen Mordes durch Brandstiftung im letzten Jahr für die Ehefrau aus Sacramento erwähnen, den er mit einer innovativen Missbrauchsdefinition bewirkt hatte (wonach das Lächerlichmachen vor Freunden ebenfalls Missbrauch war)? Das volltönende »Nicht schuldig«, das man Fred Johnson zuteil werden ließ, dem kleinen Dieb aus Cabrini-Green in Chicago, der durch Gehirnwäsche, jawohl, Gehirnwäsche, meine Damen und Herren, dazu gebracht wurde, einer militanten Zelle, nein, keiner Bande, einer militanten Zelle dabei zu helfen, drei Kunden in einer Wechselstube in der Southside zu ermorden? Das berühmt-berüchtigte Profil in Time ?
    Doch Lescroix wiederholte lediglich: »Es gibt keinen Besseren, Jerry«, und besiegelte das Argument durch die Laserstrahlen seiner Augen.
    »Die Verhandlung ist morgen. Was wissen Sie überhaupt von dem Fall? Ich meine, kriegen wir eine Vertagung?« Das Wort kam ihm glatt über die Lippen, zu glatt. Er hatte sicher lange gebraucht, um zu begreifen, was es bedeutete.
    »Nicht nötig. Ich habe in den letzten drei Tagen nichts anderes getan, als die gesamte Akte zu lesen.«
    »Drei Tage.« Ein neuerliches Blinzeln, eine Bewegung zum Ohrläppchen. Das war ihre erste Zusammenkunft heute. Wieso hatte Lescroix in den letzten drei Tagen seine Akte durchgearbeitet?
    Aber Lescroix erklärte es nicht. Er erklärte nie etwas, wenn es nicht unbedingt sein musste, am wenigsten einem Klienten.
    »Aber sagten Sie nicht, dass Sie aus New York sind oder was? Können Sie hier einfach einen Prozess machen?«
    »Goodwin wird mich den Prozess ›machen‹ lassen. Kein Problem.«
    Weil er ein anständiger Kerl ist.
    Und ein rückgratloser Waschlappen.
    »Aber er berechnet mir nichts. Machen Sie es auch umsonst?«
    Er weiß wirklich nichts über mich. Erstaunlich. »Nein, Jerry, ich arbeite nie gratis. Man wird nicht respektiert, wenn man gratis arbeitet.«
    »Mr. Goodwin...«
    »Mr. Goodwin wird nicht respektiert.«
    »Ich respektiere ihn.«
    »Ihr Respekt zählt nicht, Jerry. Ihr Onkel bezahlt mein Honorar.«
    »Onkel James?«
    Lescroix nickte.
    »Er ist ein guter Mensch. Hoffentlich hat er seine Farm nicht verpfändet.«
    Er ist kein guter Mensch, dachte Lescroix. Er ist ein Idiot.
    Weil er glaubt, es gibt immer noch Hoffnung für dich. Und es interessiert mich einen feuchten Kehricht, ob er die Farm verpfändet hat oder nicht . »Also, was meinen Sie, Jerry?«
    »Na ja, also gut. Aber eins müssen Sie noch wissen.« Er rutschte näher, dass die Fesseln klirrten. Dann beugte sich das junge Stoppelgesicht über den Tisch, und die dünnen Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln.
    Doch Lescroix hielt einen Zeigefinger in die Höhe, der in einem manikürten Nagel endete. »Jetzt verraten Sie mir ein großes Geheimnis, nicht wahr? Dass Sie

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